Ausstellung beendet
Die Frühjahrsausstellung 2021 erzählt von der Hinwendung zu höheren Mächten in verschiedensten Kulturen und Epochen.
Unter dem Motto „Seeing across cultures“ greifen rund 100 Objekte, die zum Teil noch nie zu sehen waren, dieses höchst aktuelle Thema auf und schaffen Raum für eigene Assoziationen, Emotionen und überraschende Begegnungen.
Höhere Mächte – bzw. die menschliche Vorstellung davon – haben seit jeher die Kulturen der Welt geprägt.
Naturgewalten, Seuchen oder politische Systeme vermitteln uns auch heute noch das Gefühl, immer wieder Mächten ausgesetzt zu sein, die wir kaum beeinflussen können, die sich aber trotzdem auf unser Leben auswirken, es verändern und bestimmen.
Die Ausstellung präsentiert Zeugnisse aus den Beständen der vielfältigen Sammlungen des Kunsthistorischen Museums, des Weltmuseums Wien und des Theatermuseums, die von der Hinwendung zu höheren Mächten erzählen. Die ausgewählten Objekte machen deutlich, in wie vielen unterschiedlichen Formen und Facetten sich dieses Thema in Kultur und Kunst niedergeschlagen hat. Bei der Auswahl wurde bewusst ein Fokus auf die enge Verschränkung und direkte Gegenüberstellung von Objekten unterschiedlichster Herkunft gesetzt.
Die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde prägen die Existenz der Menschheit seit jeher.
Das Element Feuer
Giuseppe Arcimboldo
1566
Element Luft in Il lutto dell’universo
Ernst Fuchs (Kostümentwurf), Ernst Steiner, (Maske)
1977
Maskenkostüm des Sturmdämons O´ma
Brasilien, Tikuna, um 1830
Oxalá/Oxalufã
Antonio Alexandre de Sousa Teixeira
Brasilien, 2016
Sie werden als positive Kräfte einerseits, als bedrohliche und zerstörerische Naturgewalten andererseits wahrgenommen. Die Ausstellung widmet sich anfangs den Darstellungen von Naturgottheiten, denen antike Mythen, christliche Sichtweisen und moderne Erzählungen gegenübergestellt werden.
Insignien wie Kronen, Federhüte oder kostbare Kleidungsstücke dienten irdischen Herrschenden als Ausdruck ihres gottgegebenen Machtanspruchs.
Krone Stefan Bocskais
Türkisch, um 1605
Kopfbedeckung
Unverzeichnete(r) Künstler der Luba (?)
DR Kongo, 19. Jh.
Idealbildnis Kaiser Karls des Großen (747–814)
nach Albrecht Dürer
Ende 16. oder frühes 17. Jh.
Die Strategien und Mechanismen, die irdische Machthaber*innen entwickelten, um ihre Stellung, ihr Tun und Handeln als Zeichen des Willens und Einflusses höherer Mächte zu demonstrieren und zu legitimieren, werden in einem weiteren Bereich der Schau hinterfragt. Als höhere Instanz agierten sie ganz konkret in Fragen der Gerichtsbarkeit, dem Urteil über Leben und Tod sowie bei Entscheidungen über Krieg oder Frieden.
Den Wunsch nach einer Verbindung mit höheren Mächten haben die Kulturen der Welt gemein.
Sog. Horoskop-Amulett Wallensteins
Süddeutsch, um 1600–1610
Retablo
Joaquín López Atay
Peru, 1970er Jahre
Stabpuppe: Buddha in Der Drachentöter
Richard Teschner
1928
Die Ausstellung widmet sich anschließend dem Versuch, mit diesen Mächten in Kontakt zu treten und zeigt u. a. ganz persönliche Leihgaben unserer Besucher*innen. Mithilfe von Ritualen, Gebeten und Amuletten wird seit jeher um Hilfe, Schutz und Beistand angesucht. Schaman*innen und Priester*innen standen und stehen Menschen in Gefahren als Mittler*innen und Helfer*innen zur Seite. Die Verbindung zu Gottheiten wurde über Kultbilder gesucht, die mit Votivgaben, Blumen und Gesängen geehrt wurden: Als eine etwas andere Form des Sich-Verbindens wird schließlich auch der ekstatische Tanz gezeigt.
Welche Objekte Glück, Kraft und Inspiration schenken können und was Ihre Gedanken zum Thema höhere Mächte sind, erfahren Sie in unserer Frühjahrsausstellung.
Um eine aktuelle Perspektive auf das Thema zu werfen, haben wir Sie bereits vorab eingeladen, sich mit kreativen Texten und Ihren persönlichen Glücksbringern an diesem ungewöhnlichen Ausstellungsprojekt zu beteiligen. Besuchen Sie die Ausstellung und teilen auch Sie Ihre Gedanken zum Thema höhere Mächte mit uns. Wir freuen uns auf Ihren Beitrag!
Die folgenden Texte entstanden im Rahmen einer Online-Schreibwerkstatt im Vorfeld der Ausstellung Höhere Mächte. Abbildungen von fünfzehn Objekten, je fünf aus dem Kunsthistorischen Museum, dem Weltmuseum Wien und dem Theatermuseum wurden ausgewählt und dienten den Teilnehmer*innen als Inspiration für das Schreiben eigener Texte. Dabei haben wir bewusst auf Erklärungen zu den Objekten verzichtet, um eine unvoreingenommene Auseinandersetzung zu ermöglichen.
Die Texte zeigen, welche Assoziationen, Gedanken und Geschichten bei der Betrachtung der Sammlungsstücke in Verbindung mit dem Ausstellungsthema entstehen; sie geben Einblick in Gedankenräume von Betrachter*innen und sind keine Museumstexte im gewohnten Sinne, auch weil sie außerhalb des Museums entstanden sind. Wir verstehen die ganz unterschiedlichen Einreichungen als Angebot zur Inspiration und zur Erweiterung eigener Betrachtungsweisen.
Die Kunst- und Kulturvermittlungsabteilungen des KHM-Museumverbands wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen und Schmökern.
Wir danken allen Autor*innen für ihre Beiträge.
Unica Neuspiel
Hilfe, Schutz und Licht
machen aus allein und klein
mutig, stark und groß.
(Haiku)
Stephan Arnhold
Als Bücherwand, die links neben dem Hund steht, hatte ich einen sehr guten Blick auf die eingefangene Szenerie. Zuerst war ich ängstlich wegen der aggressiven Töle, aber das vermeintlich mit Zauberkräften versehe Kind (es hatte so allerlei Hokuspokus-Behältnisse an sich) hielt es mithilfe eines vom Maler fortgelassenen Hundestachelhalsbandes fest in seiner kleinen Hand. Apropos fortlassen: Als Erstes fällt einem natürlich auch die Abwesenheit von fast allen Farben auf, es ist sehr viel in Rot gehalten, was den bedrückenden Eindruck noch verstärkt. Alles in allem ein Meisterwerk des siebzehnten Jahrhunderts über die Götzenverehrung von Kleinkindern, denen noch nicht Mal das Spielen mit Minigiraffen erlaubt war.
Charlotte Heinich
Wau, wau… Nicht einmal laut bellen darf ich! Also lass ich es mir einfach nur gut gehen und genieße den weichen, warmen Stoff und lieg auf dem Sessel, den sonst nur mein Lieblingsmensch benützt. Das arme Kind steht jetzt schon so lang und darf sich nicht bewegen, weil der Maler es ganz genau sehen möchte. Ich beobachte ihn dabei und schau ihn auch ganz genau an, damit meiner kleinen Herrin nichts passiert, denn ich bin zwar klein, aber ich würde sie verteidigen – und wenn ich für sie etwas tun kann und ich beiße, dann Gnade Gott dem von-mir-Gebissenen. Nein, nein, ich bin zwar klein, aber spaßen darf man nicht mit mir, dann werde ich wild und bin dann wie ein Löwe… Meine kleine Prinzessin nimmt mich oft auf den Schoß und streichelt mich… Da könnte ich Schnurren wie ein Kater, aber natürlich bin ich ein Hund, ein ganz besonderer Hund, denn ich gehöre zur Prinzessin. Ist sie nicht schön!? Und lieb! Wir spielen auch gern miteinander. Sie versucht mich manchmal zu fangen, aber ich bin natürlich viel schneller, und so laufe ich oft nur hin und her und springe und jaule vor Freude und sie vergisst dann auch alles und lacht und springt und… Ja, leider geht das oft nicht lang, dann kommt die Gouvernante und sie muss wieder brav an ihrer Hand gehen und ich nebenher… Wie glücklich bin ich doch! Niemand ist mir so lieb wie sie! Es ist, als ob wir zwei einfach vom Schicksal zusammengeführt wurden. Ich werde sie nie verlassen… Hoffentlich ist der Maler jetzt bald fertig…
Alexander Zeiger
„Der Himmel stimmt uns zu.“
Wem?
Den Mächtigen. Oder einer Mehrheit.
Und wem grollt er?
Den Mächtigen. Behaupten die Minderen.
Solange sie es sind.
Werden sie ermächtigt, stimmt ihnen der Himmel zu. Sagt jetzt die Mehrheit aus Minderen zu der Minderheit der Mächtigen.
Der Himmel, er schaut zu.
Und schickt bloß Wechselwetter.
Sonntraut Diwald
Der Zauber der Kindheit
Gezeugt, getragen, geboren. Versorgt.
In amulettbehangene Kleider gesteckt.
In Gesellschaft eines Wesens anderer Spezies.
Noch sind sie in Augenhöhe. Das wird nicht so bleiben.
Das Menschlein wird sich erheben.
Man wird ihm gesagt haben, es sei die Krone der Schöpfung.
Hat es ein liebendes Herz bewahrt, wird es dem kleinen Hund – der bald ein alter Hund sein wird – verbunden bleiben. Wird es Leben mit ihm teilen – soweit das Hofzeremoniell das zulässt.
Wenn das Menschlein überhaupt am Leben bleibt. Wenn das Hündlein überhaupt am Leben bleibt. Das Leben ist hart in diesen Zeiten.
Kann sein, man wird von dem Menschlein sagen, es sei ein Engel geworden vor seiner Zeit. Kann sein, das Kind wird sich damit trösten müssen, dass sein Hündchen nun im Hundehimmel ist.
Ob es sich fragen wird, ob es verschiedene Abteilungen von Himmel gibt – je nach Art des Geschöpfes? Je nach Stellung im Leben?
Wie auch immer: es wird geWESEN sein. Festgehalten in einem Augenblick der Liebe.
Fiorella Schiano
Ach, was soll ich sagen. Man würde meinen, das Leben eines Palasthundes sei einfach, sorgenlos und geradezu paradiesisch. Doch die Wahrheit sieht anders aus. Von außen betrachtet scheine ich das perfekte Leben zu führen: Gemütlich liege ich auf weichen, roten Samtsesseln, spaziere stolz auf dicken, teuren Teppichen in hohen, goldenen Hallen, esse nur das Feinste vom Feinen und werde von meinen Menschen mit liebevollen Streicheleinheiten verwöhnt. Doch wie es in mir drinnen aussieht… Pah! Das interessiert wahrlich keinen. Tag ein, Tag aus derselbe Trott. Ich habe es satt! Schon lange fühlen sich die gepolsterten Samtsessel nicht mehr gemütlich an, schon lange behindern mich die Perserteppiche beim Laufen, schon lange engen mich die weiten Hallen ein, schon lange schmeckt das feine Fressen immer gleich und schon lange sind mir die verwöhnenden Streicheleinheiten unangenehm und erdrücken mich. Das Leben im goldenen Käfig, gefangen in einer immerwährenden Tretmühle, erfreut mich nicht, wenn man überhaupt von einem „Leben“ sprechen kann. Wie gerne wäre ich doch ein wilder Straßenhund, der draußen auf dem rauen Pflaster täglich ums Überleben kämpft und dem Ruf des Abenteuers frei folgen kann. Doch dieser Wunsch bleibt mir verwehrt, es ist eine banale Tagträumerei, der ich in besonders ereignislosen Tagen nachhänge… Nanu, die helle Glocke für das Abendmahl erklingt. Gleich wird mir zartes Rindfleisch oder edelste Gänseleber auf weißem Porzellan serviert, doch würde ich das für eine halbverweste Kanalratte tauschen. Morgen beginnt wieder ein langatmiger Tag, der dem vorigen und dem davor und den unzähligen davor ähnelt. Falls ich vor Langeweile nicht umkomme, mögen mir die Götter einen Ausbruch aus dieser nicht endenden Melancholie schenken. Und nun, guten Appetit!
Annina Schidla
Wie lange soll ich denn noch hier sitzen? Das ist langweilig. Ich habe Hunger! Blutwurst, Huhn in Soße, frisches Kaninchen, ein paar Stückchen Karotten… Mmh, das wäre gut. Aber das muss noch bis später warten, wir müssen hier für dieses Bild posieren. Immerhin darf ich sitzen, Claudette muss die ganze Zeit stehen. Ich liebe sie, sie ist meine beste Freundin. Das kleine Mädchen hat ja noch keine Ahnung, was alles auf sie zukommen wird. Prinzessin zu sein klingt besser, als es ist. Sie muss immer hübsch und freundlich sein, sie muss tun, was man ihr sagt, sie muss Kleider tragen, in denen sie nicht atmen kann, sie muss jemanden heiraten, der für sie ausgewählt wird… wie Kräfte zehrend. Sie hat keine Macht, sie ist unterlegen und wenn sie groß und an der Macht ist, muss sie ihr Leben dem Volk widmen und ist dem System unterlegen. Wenn das Macht ist, verzichte ich darauf. Da bin ich doch lieber ein Hund, der frei ist. Oh, „Platz“ hat der alte Maler gesagt. Ich mach’ „Platz“, ich bin ein braver Hund. Wenn ich mich nicht bewege, bekomme ich vielleicht bald etwas zu essen.
Sylvia Clasen
Mein liebes Kind, erinnerst du dich an meine Zeichen und Blicke? Ich stand direkt neben dem Künstler. Du solltest dich ganz auf mich konzentrieren, um nach dem Wunsch deines Vaters ernst, gedankenvoll und weitsichtig zu blicken. Ich sollte nicht lächeln, aber es misslang mehrmals, als du immer wieder versuchtest Pepita zu streicheln und dabei fast über die Stuhllehne vor dir gefallen wärest. Du hast es aber toll gemacht. Auch dein kleiner Liebling blieb letztendlich brav auf ihrem Plätzchen, eben, weil sie wusste, dass in der Hand hinter meinem Rücken ein Leckerli auf sie wartete. Wie viel Spaß hattest du mit dem treuen Hündchen. Bis zuletzt wich sie nicht von deiner Seite. Du warst so kränklich und zart. Hätte ich dir doch nur noch etwas rotes Puder auf dein blasses Gesicht aufgetragen! Ebenso auf deine schneeweißen kleinen Händchen. Erinnerst du dich, wie ich mich aufgeregt habe, als ich bemerkte, dass eines der Amulette auf die Seite gerutscht und für den Maler nun nicht mehr sichtbar war? Dabei hattest du am frühen Morgen großes Glück gehabt. Du wolltest meiner Cousine beim Bügeln deiner weißen Schürze zuschauen und hättest dich fast verbrannt, weil du plötzlich das Bügeleisen anfassen wolltest. Nun sieht man eben noch die harten Kanten der Bügelfalten auf der großen Schürze. Klein zusammengefaltet war der zarte Stoff, von Lucia aus deinem riesigen Kleiderschrank geholt. Meine Cousine bekam großen Ärger und durfte ab sofort nicht mehr für deine Kleidung zuständig sein. Erinnerst du dich, wie oft ich dich ermahnen musste, das Band um deine Schulter dort zu lassen, wo es war, auch wenn es dich sichtlich einschnürte? Wie erleichtert war ich, dass du deine Kopfbedeckung ablegen durftest. Nun liegt sie auf dem pompösen Kissen, das eigentlich deine künftige Krone tragen sollte. Auf Anweisung des berühmten Malers habe ich den schweren Vorhang vor dem Fenster beiseitegeschoben und auf dem Stuhl drapiert, damit dein Gesicht aus dem dunklen Schatten tritt, der dich umgab. Sogleich trafen die grellen Sonnenstrahlen deine Augen. Du musstest sie sofort schließen und es dauerte eine Weile, bis du die Augen wieder öffnen konntest. Du blinzeltest und riebst eine gefühlte Ewigkeit an deinen Augen. Der Künstler wurde schon ungeduldig und schaute mich strafend an. Wir mussten kurz unterbrechen und ich trocknete deine Augen. Wie wunderbar glänzte dein blondes, weiches Haar in der Sonne! Deine ganze Silhouette erstrahlte im Licht der warmen Sonne, ein so wunderschöner – wenn auch kurzer – Moment in deinem Leben. Dein Schicksal meinte es anders mit dir. Ich vermisse Dich.
Aus dem Tagebuch deiner Hofdame
Barbara E.
Ich fühle mich in diesem wunderschönen Kleid so, also ob ich keine Luft bekomme. Aber es gefällt mir trotzdem sehr gut. Wie schön, dass so viele Menschen um mich sind und auf mich blicken. Ich würde zwar gerade lieber mit den anderen Kindern spielen, muss aber wohl noch ein bisschen warten, bis ich wieder raus und im Garten mit den anderen Kindern spielen kann.
Unsere kleine Emilia, ist sie nicht entzückend! Wie brav und ruhig sie hier für das Bild dasteht. Sie ist einfach wunderbar! Wie sehr hat unsere Familie auf diesen Nachwuchs gewartet. Und nun, wo sie da ist, blüht unsere Großmutter wieder richtig auf!
Meine Liebe, du weißt nicht, in welche Familie du geboren wurdest... Einen Rat gebe ich dir aber mit: Sei frech, wild und wunderbar.
Johanna G.
Jedes Mal, wenn ich aufwache, höre ich ihren leisen, röchelnden Atem. Aus ihren Augen strahlt Unschuld. Sie ist ein Kind. Da ändert der soziale Status nichts daran.
Es scheint, als wäre ihr Leben auf Samt gebettet. Weich und berechenbar. Berechenbar durchaus. Bevor sie geboren wurde, stand ihr Schicksal schon so gut wie fest. Ihr Leben folgt einem Protokoll, einem starren, scheinbar nicht verhandelbaren Rahmen.
Die Leichtigkeit und den Anspruch auf Selbstbestimmung hat sie mit ihrer Geburt abgegeben. Wird sie etwas davon irgendwann einmal zurückerobern?
Momentan hindert sie ihr steifes Kleid schon daran, ihre Welt selbst zu erkunden. Was das Kleid nicht verhindert, erledigen die Kindermädchen. Sie ermahnen sie, stutzen sie zurecht, folgen den Regeln einer höfischen Erziehung. Spaß und eigene Entdeckungen kommen nicht darin vor. Ich frage mich, ob es wirklich entscheidend ist, dass man im Kleinkindalter bereits auf das Erwachsenenleben vorbereitet wird. Aber selbst wenn ich eine Antwort auf diese Frage hätte, würde sie kaum jemand verstehen. Das liegt an meiner Sprache und an meinem Status.
Aber zurück zur Infantin. Ich schaue wieder in ihre sanften Augen. Vermisst sie ihre Eltern? Sie kann kaum alleine stehen und auf ihren Schultern lastet die Erwartungshaltung einer Nation. Ihre Eltern haben sich diesen Erwartungen verschrieben und erfüllen sie. Noch weiß sie nichts davon. Vielleicht spürt sie es. Vielleicht ahnt sie, dass die Pflichterfüllung ihre Eltern unfassbar kalt und distanziert gemacht hat und sie will das nicht hinnehmen.
Am Morgen lacht sie manchmal und nähert sich mir. Zuweilen streichelt sie mich. Doch sofort stürzen die Kindermädchen wie übermächtige Naturgewalten auf sie zu und nehmen ihr diese Möglichkeit auf Zärtlichkeit und Nähe. Nur nicht verweichlichen. Das Leben verlangt kühl denkende Herrscher. Wir werden sehen, ob sie den ihr auferlegten Lebensplan erfüllt.
Ich kuschle mich in meine Plüschsessel und schlafe weiter. Den sanften, unschuldigen Blick baue ich in meinen Traum ein. Ein Traum von im Gras tobenden Kindern und lautem Lachen.
Anonym
Die Macht eines Bildes
Die mediale Welt der Vergangenheit, ohne Fotografie aber mit mächtigen und ausdrucksstarken Bildern, fasziniert mich immer wieder: lebendige Gesichter, gestochen scharf im Licht des Betrachters, jedes Detail ist perfekt dargestellt. Kein Foto kann diese Gemälde an Kraft überbieten. Sie vermitteln einen Hauch des Lebens aus fernen Zeiten, den man unmittelbar spürt. Obwohl es sich nicht um freie Kunst im gegenwärtigen Sinn, sondern um Auftragswerke handelt, üben diese alten Bilder eine große Faszination aus: Das Kind steht unmittelbar vor uns, es blickt mich an – ernst und lächelnd zugleich, ganz nahe und doch weit entfernt. Wer bist du, was erwartet dich im späteren Leben? Große Kunst kann erst aus der zeitlichen Distanz beurteilt werden, dieses Bild strahlt über die Jahrhunderte hinweg in die Zukunft und bleibt dabei ein großes Geheimnis: Das Werk entzieht sich letztendlich der Darstellung und Erklärung mit Worten. Lassen wir es sein, was es ist – gemalte Kunst, die zeitlos verzaubert!
Bina
Ich schaue mich an, ich, die Kleine. Drapiert für ein Porträt. Ich bin ein Junge, als Mädchen verkleidet. Bin ich froh, dass meine Hündin Mili so entspannt auf meinem Stuhl liegt und die Betrachterin so schön entspannt ablenkt. Ich darf mich nicht bewegen, heißt es, denn sonst klingen die Glöckchen und Anhänger an mir. Was soll das? Wie lange muss ich so stehen bleiben? Die Spinnweben unter meinem Stuhl zeugen von Dauer. Was ist das für ein Tuch oder Kleidungsstück auf dem Kissen hinter mir? Sieht so achtlos hingelegt aus. Ein blonder Mädchenlockenkopf würde hier besser passen. Am besten drei Jahre älter. Die Farben Weiß-Rot sind Habsburg? Nur etwas Braun ergänzt. Bin ich ein Weihnachtsgeschenk? Danke, dass Mili mit aufs Bild durfte, sonst wäre ich schon sehr alleine.
Magdalena
Gut, dass die Mama mir versprochen hat, dass ich, wenn ich das Kleid für das Bild anziehe, den kleinen Hund haben kann. Ich will schon lange einen Hund. Er darf dann bei mir im Bett schlafen. Dann kann er mich beschützen und ich muss nicht mehr nachts Angst haben, wenn Mama und Papa ins andre Gebäude schlafen gehen. Ich würde ihm all das Essen geben, das ich nicht mag; den Kaviar zum Beispiel oder die gestopfte Gans. Und eines Tages würden wir gemeinsam aus dem Schloss abhauen – zu den Kindern der Amme, von denen sie mir immer so gerne erzählt, wenn ich abends nicht einschlafen kann. Da werden wir spielen – den ganzen Tag und die ganze Nacht und uns niemals fürchten, weil wir immer zusammenbleiben dürfen. Die Kinder, mein Hund und ich.
Anonym
Abrakadabra – Simsalabim!
Ich bin ein goldenes Glöckchen und beschütze Dich!
Ob Krankheit, Gefahr oder böser Blick
all dies weicht von Dir wenn ich erkling!
Klingelingeling!
Anna-Maria Liebwald
Zug um Zug gleite ich dahin,
Punkt um Punkt tanze ich im Takt.
Aus Zaghaftigkeit wird selbstbewusster Leichtsinn,
aus weißer Tristesse ein farbenfroher Pakt.
In meinen Werken steckt eine großartige Macht,
ich erschaffe Stoffe, Tiere, Menschen sogar.
Durch mich werden Sehnsüchte entfacht,
und verborgene Kinderträume wahr.
Ich selbst bin ausdrucksstark, doch unscheinbar,
mein Wirken hallt Jahrhunderte lang nach.
Die Größe meiner Taten ist weithin sichtbar,
ich bin so klein, so wirksam, so mächtig, so einfach.
An dieses Meisterwerk erinnere ich mich gut,
des Hundes jämmerliches Gewinsel,
der kleine Prinz, der in sich ruht.
Und all das erschuf ich göttlicher Pinsel!
Grit Koch
Nichtsahnend. Oder doch. Was geschieht hier? Mir? Hilfe, bitte. Wer zeigt mir den Weg, ich zu sein, trotz aller Last. Ein Wesen an meiner Seite. Für mich da. Ja, es ist da! Für mich! Alles wird gut!
judith maria weratschnig
Göttersturm, Blitz und Donner und übernatürliche Energie ließen die neuen Bauwerke zu Schutt und Asche werden.
Unaufhaltsamer Wind und übernatürliche Energien ließen alle architektonischen Wunder zusammenfallen.
Nur der Göttersturm zeugte von unzerstörbarer Macht und unaufhaltsamer Energie, die jedes Menschen Werk zerstörte und zerbarst.
Nichts blieb, nichts verweilte, nur der Sturm verblieb.
Anonym
Da glaubten die Menschlein, dass sie die Welt verstünden. Doch ich habe ihr Glück in Staub verwandelt. All das Beten und Jammern hat nichts genützt. Zermalmt unter den Trümmern liegen sie da. Die, die überlebt haben, flehen um Gnade, flehen um das Leben ihrer Liebsten, flehen um ein Ende der Katastrophe. All die schöne Ordnung – dahin. Egalisiert. Reich und arm, alt und jung. Es macht keinen Unterschied mehr.
Aber typisch Mensch, sieht sich als einziges Opfer. Als einziges Ziel eines „göttlichen Zorns“. Wer denkt da schon im Angesicht des Unglücks an all die anderen Lebewesen, die mit ihnen den letzten Atem aushauchten? Wie wichtig sie sich nehmen. Wie lächerlich!
Mir ist das doch Einerlei. So ein Beben kann einem schon passieren. Da war eben etwas verspannt. Das muss man verstehen. So etwas muss sich lösen. Das ist doch klar. Manchmal kann es eben heftig werden. Und wenn schon. Ich habe niemanden eingeladen, überall diese Häuser hinzubauen. Und wenn dann was passiert, wäre ich „böse“ auf sie gewesen oder sie hätten „gesündigt“. Was soll man da noch sagen?
Wie kann man sich selbst nur so wichtig nehmen? Ich habe ehrlich gesagt genug zu tun mit den ganzen Galaxien, Sonnen und Planeten. Wie faszinierend ist doch, was so alles entsteht, wenn man den Kräften freien Lauf lässt. Alles bewegt sich, alles verändert sich. Das hört nie auf. Manchmal langsam, manchmal schnell. Am liebsten sitze ich nur da und beobachte, wie sich alles entwickelt. Dann denke ich darüber nach, wer das wohl alles geschaffen hat. Also ich war das nicht!
Anna-Maria Liebwald
h-ohn-mächtig
Mächtig sind die Mächte
und voller Hohn,
entmachten die Unmächtigen
zu Ohnmächtigen.
Die Ohnmächtigen
ohne Macht
verhöhnen
die Mächte und
bemächtigen sich ihrer.
Die Unmächtigen
werden damit
zu Mächtigen.
Die Mächte verfallen
in Ohnmacht.
Hohn auf der einen Seite.
Macht auf der anderen.
Das Spiel beginnt von vorne.
Was bleibt, ist Ohnmacht.
Andrea Pierus
Höhere Mächte
Caspar galoppierte zum Pferdeparkplatz „Zentrum“ und band seinen Schimmel fest. In der Pferdeparkordnung waren die Tarife festgelegt. Zwei Groschen mussten für die Parkdauer von einer Stunde berappt werden. „Niemand zu sehen!“, dachte Caspar und beschloss, wie schon so oft, die Parkgebühr einzusparen.
Zeus, der mit einem Fernrohr am Olymp saß, beobachtete Caspar grimmig und beschloss, dass nun ein Denkzettel fällig wäre, damit dieser selbsternannte Sparmeister wachgerüttelt und an seine Pflichten erinnert werden würde. Er schlenderte zum Plattenspieler und Sekunden später erscholl von Ultravox Dancing With Tears in My Eyes aus den Boxen. Zeus stellte die Lautstärke auf Maximum, damit Caspar und mit ihm die ganze Stadt den Song gut hören konnten. Die Bässe dröhnten mit 150 Dezibel durch die Gassen und ließen den Erdboden erzittern. Die Wände der Häuser bogen sich zueinander, wie wenn sie sich zu einem Tänzchen zusammenfinden wollten, die Gegenstände in den Räumen klirrten im Takt, die Lampen schwangen im Rhythmus der Musik. Die Menschen stürzten schreiend auf die Straßen. „Ein Erdbeben! Hilfe! Ein Erdbeben!“, hörte man die sich vor Entsetzen überschlagenden Stimmen. Auch Caspar rannte hinaus und blickte angstbebend nach oben. Diesen Augenblick hatte Zeus gewählt, um in einer Montgolfière, an der ein Transparent angebracht war, über die Stadt zu schweben. Mit weit aufgerissenen Augen las Caspar: „Letzte Warnung für Parksünder. Wer bis Mitternacht nicht alle Gebühren beglichen hat, wird fortan mit einem Pferdefuß durchs Leben gehen!“ Caspar spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach. In einem Tempo, als würde ihn ein Hornissenschwarm verfolgen, rannte er zum Finanzamt Innere Stadt und beglich seine Schulden. Zeus nickte zustimmend und lächelte. Als Caspar wieder auf die Straße trat, hatte sich die Lage beruhigt. Die Häuser beendeten langsam ihren furiosen Tanz und Zeus ließ die Schallplatte zurück in ihre Hülle gleiten.
Anonym
Es war ein trüber Vormittag und es geschah gerade so, wie es mir im Traum erschienen war. Wie gewohnt saß ich an meinem schmalen, hölzernen Schreibtisch am Fenster, vor mir die leeren Bögen ausgebreitet, auf denen die tropfende Tinte langsam verlief. Mein Geist war zerstreut und abwesend, daher entging mir zunächst das sachte Beben unter meinen Füßen. Erst die Vibration des Tintenfasses riss mich aus meinen Gedanken – schon stürzte das erste Porzellan aus den Regalen, so sehr zitterte das Fundament. „Somit beginnt es“, sprach ich leise zu mir, erhob mich vom Schreibtisch und griff nach dem verbeulten Sakko, das an der Lehne des Sessels hing. Es taten sich bereits breite Risse an den Wänden auf und erste Schreie gellten von der Straße zu mir hinauf. Feinsäuberlich strich ich meine Jacke glatt und zupfte den Kragen zurecht, auch den Papierstapel am Tisch schob ich in aller Ruhe zusammen, obgleich er im nächsten Moment bereits wieder durcheinander gerüttelt wurde. Dies soll nun also unsere gerechte Strafe sein, das Ende des Menschen, wie wir ihn kennen. Zu gierig, zu selbstgerecht und frevelhaft und ausbeuterisch haben wir uns verhalten.
Ich trat in den Flur und lächelte grimmig. Unter meinen Füßen brachen die Treppen weg, der Verputz regnete wie Hagel auf mich herab und sollte mich Sündigen mitsamt allen anderen binnen weniger Minuten unter sich begraben haben.
Anna Salehpour
„Ich bin der Sturm. Ich habe die Macht, euch fortzublasen, euch ins Gesicht zu pfeifen, sodass ihr nicht mehr atmen könnt.“
„Ach du gewaltiger Sturm! Lass uns am Leben! Du bist groß und mächtig, aber setze deine Kräfte für das Gute ein! Du kannst Gewitterwolken fortjagen oder im Herbst die Blätter von den Bäumen reißen. Im Frühling bist du es, der die Samen austeilt. Wir ehren dich und deine Macht, aber bitte verwende sie nicht gegen uns!“
„Ich bin der Sturm. Ich bin überwältigend. Keiner kann mir gebieten, was ich zu tun habe…“
„Das ist nicht wahr! Oder hast du dich vielleicht selbst erschaffen? Du bist mächtig, aber du bist nicht der Mächtigste. Durch dein Auftreten wird uns nur sichtbar, wie unendlich stark und gewaltig der sein muss, dem wir uns alle verdanken.“
Da fing der Sturm erst so richtig zu toben an und ich fragte mich, ob er eine Ausgeburt des Himmels oder der Hölle sein.
Nochmals sammelte ich alle meine Kräfte und schrie so laut ich konnte: „Gott gebiete dir!“
Und siehe da: Plötzlich war es still um mich. Die Luft war wieder ruhig und man konnte herrlich durchatmen. Die Wolken beruhigten sich und das Wasser schäumte und spritzte nicht mehr so stark.
Die Welt war wieder in Ordnung. In heiliger Ordnung?
Vom Chaos zum Kosmos.
Andrea Fischer
„Hey, was soll das, was macht ihr mit mir? Soll das ein Spaß sein? Ich finde das gar nicht lustig. Au, greif mich nicht hart so an, Du tust mir weh! Davide? Wo bist Du?“ Klio konnte sich gar nicht so schnell umdrehen, um zu sehen, wer ihr da die Hände so fest auf den Rücken hält, da hatte sie schon eine miefige Maske auf ihrem Kopf, alles war plötzlich dunkel um sie herum, Geräusche kamen nur gedämpft an ihre Ohren. Sie schrie, doch hatte sie nicht das Gefühl, gehört zu werden. Sie spürte einen unwirschen Ruck. Als sei sie ein Fliegengewicht, hob sie jemand vom Boden und schulterte sie. Klio konnte es nicht fassen, alles ging so schnell, sie versuchte sich zu wehren und strampelte mit ihren Beinen, verlor dabei ihre Holzpantinen von ihren Füßen. Der Griff um ihre Unterschenkel wurde stärker. Ihre Hände waren auf ihrem Rücken zusammengebunden. Das Blut stieg ihr in den Kopf. Sie hörte dumpfes Gelächter. Galt das ihr, fragte sie sich. Sie verlor das Gefühl für die Zeit, denn plötzlich hatte sich die Stimmung geändert. Es war kalt. Ein beängstigendes Grollen war zu hören, lautes Getöse über ihr, sie vernahm ein gewaltiges Rauschen, da wurde sie unsanft auf glitschigen Boden gesetzt. Wo zum Teufel habt ihr mich da hingebracht? Sie hörte Männerstimmen und jemand riss ihr die Maske vom Kopf. Klio blickte in das bartstoppelige Gesicht des breit grinsenden Bravo. Seine Zähne waren ganz braun, zwei in der oberen Reihe fehlten, sie konnte seine Zungenspitze sehen. „Ach, das hätte ich mir ja denken können“, kam es ihr über die Lippen. „Halt den Mund“, drohte er, „Du redest nur, wenn du gefragt wirst, du dummes Ding!“ Jetzt blickte sie sich um. Sie befand sich in der Gewitterlandschaft von Rubens. Alles um sie herum wirkte bedrohlich. Das Gewittergrollen kam näher, die Bäume bogen sich im Sturm. Es war so laut, dass sie ihr eigenes Wort nicht verstand. Wassermassen stürzten sich direkt neben ihr die Geländestufen herunter, wälzten sich gurgelnd unter ihr vorbei, rissen alles mit sich, was sich nicht halten konnte. Sie konnte das Brüllen der Kuh, die zwischen den herabstürzenden Stämmen eingeklemmt war, nicht hören, oder war sie schon tot?
Jetzt packte Bravo sie grob am Kinn und schrie sie an. „Wo ist das Bild?“ Klio blickte in die wütenden Augen des wilden Mannes. Sie kannte ihn, es war Tizians Bravo. Das Licht ließ das Silber seines Harnischs dramatisch glänzen. Die dunkelroten, gezattelten Ärmel verströmten einen stechenden Geruch nach Schweiß. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, mach mich los, ich habe keine Ahnung, was Du meinst“, schrie Klio. „Ach Herrgott, jetzt stell’ dich nicht dümmer, als du bist. Du hast ihn doch eingeschleust und damit den Plan total durcheinandergebracht.“ „Welchen Plan?“, schrie sie ihn an. „Du wirst schon zur Vernunft kommen!“, blies er ihr seinen nach schalem Bier stinkenden Atmen ins Gesicht. „Er wird dich suchen, dein neuer Freund, und dann werden wir ihn uns genauso schnappen, wie dich, wie ein kleines Lämmchen, wird er sein, wenn er erfährt, was wir mit dir gemacht haben, und dann wird er schon damit herausrücken, wo er dieses verdammte Bild versteckt hat.“ Dabei zurrte er geschickt die Seile um den Baumstamm und drückte Klio in den Schlamm. „Du jedenfalls bleibst erst einmal hier!“ Er drehte sich mit einer ruckartigen Bewegung um und kroch, geschickt wie ein Salamander, die steile Böschung hoch. Klio konnte sich nicht einmal die Haare aus den Augen wischen. Ihre Kleidung war komplett durchnässt. „Jetzt kann mich nur ein Wunder retten“, dachte sie und versuchte verzweifelt, in ihrem Kopf die Dinge zu ordnen, die geschehen waren. Wovon hat Bravo geredet? Welches Bild soll Davide versteckt haben? Worin war er, und jetzt ja offensichtlich auch sie, da verstrickt? Wer ist Davide eigentlich?
(Auszug aus einem noch nicht fertiggestellten Jugendroman, der im Kunsthistorischen Museum Wien spielt.)
Roland Kadan
Gewitter und Flut
Mitten unter Menschen die Mächte
Mitten unter Menschen
Göttliche Gastfreundschaft
Mitten unter Menschen diese Macht
Philemon & Baucis
Ich und du
Linde & Eiche
Unversehrt & ungetrennt
M RJ
Sturm, Strom, Stroh
Ihr macht alles lebend und froh
Findet man sich sogar dort
Aber es nichtsdestotrotz
Nicht zu man gehört
Nö
Nicht, was um Menschen umgeht
Sondern alles, die steht steht
Anonym
Einfach nur dagegen
Da hänge ich nun, und weigere mich, aufzugeben. Niemand hat sie kommen sehen, diese Katastrophe. Waren meine Wünsche ans Leben umsonst? War es schon immer mein Schicksal, so zu sterben? Wenn ja, welchen Sinn hat diese Wendung? Welchen Sinn hatte mein Leben? Wer bestimmt über mein Leben? Wer zieht die Fäden? Bin ich eine hilflose Marionette in einem mir unbekannten Stück? Nein. Ich weigere mich.
Anonym
Seht, was ihr angerichtet habt, indem ihr Gott nicht gefürchtet habt! Er schickt den Sturm, der alles hinwegfegt. Doch wenn ihr umkehrt und gottesfürchtig lebt, dann seid ihr nicht ganz verloren.
Sonia Schmid
Blicke nicht auf den Sturm! Ich weiß, dass ihr euch fürchtet. Das sind Mächte, die ihr nicht beherrschen könnt. Sie bringen Not und Tod. Der Wind, die Fluten, liegen nicht in eurer Hand.
Die Menschen leiden aber heute unter noch viel mehr. Unter Kriegen, Unterdrückung, Gewalt, Hunger und Seuchen. Es liegt nicht in euer Hand.
Ihr verliert eure Lieben, euer Hab und Gut. Aber glaubt an mich, und ihr gewinnt euer Leben. Das liegt in meiner Hand.
Ich werde für euch dem Sturm Einhalt gebieten. Ich werde euch Ruhe bringen, Glück und Liebe. Ich werde euch das wahre Leben bringen. Das ewige Leben, das Paradies. Ihr könnt es schon am Horizont sehen. Glaubt an mich. Es liegt in meiner Hand.
Kaviya
Das Universum ist endlos. Endlos und erfüllt mit Leben und Energie. Energie, die auch wir jeden Tag verspüren dürfen, sei es in uns selbst oder in der Welt um uns. Sie lebt in dem Tosen eines Sturmes und in dem Plätschern eines Baches. Sie lebt in den Ästen der Bäume und dem Pochen unseres Herzens. Sie lebt und strömt durch uns, durch den Wind, der durch die Blätter der Bäume fährt, und das Wasser, das sich von den höchsten Klippen ergießt. Sie strömt durch die Wolken im Himmel, die sich im Gewitter zusammenballen, um ihre prachtvolle, mächtige Energie zur Schau zu stellen. Sie strömt durch den reißenden Fluss und den tosenden Wasserfall. Sie strömt durch alles, was wir sehen, alles was wir sind. Sie ist der Anfang und das Ende, und jeder Augenblick darin.
Agnes Broessler
„Storms do not last forever“, kein Sturm dauert ewig, steht auf der Weihnachtskarte aus Uganda, die ich 2020 von meinem Patenkind, der 12-jährigen Jowelia, geschickt bekommen habe.
Ich habe Jowelia vor einigen Jahren, als der Sturm des Lebens unerbittlich zugeschlagen und mir ein knappes Jahr nach der geliebten Mutter auch noch den Mann genommen hatte, als Patenkind „adoptiert“. Ich freue mich jedes Jahr, wenn ich auf dem aktuellen Weihnachtsfoto sehe, was aus diesem kleinen, verschreckten Waisenkind von damals geworden ist.
Die Liebe und Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die ich ihr damals mit dem Entschluss zur Patenschaft gegeben habe, hat sie mir jetzt, in Zeiten von Corona, mit dieser Karte zurückgegeben.
Anonym
Sie kommen, sie kooommeeeeeen!
Schnell, diesmal will ich sie nicht verpassen! Ooohhh schaut, orange und gelb… Hoffentlich dauert der Sturm länger, ich möchte unbedingt den Blauen erleben…
Aber kalten Wind bringen die Luftgeister schon auch. Nein, das ist der Sturm. Naja, das ist ja das gleiche… Eigentlich nicht, aber gut.
Hast du gehört? Drüben verkaufen sie Spezialoskope, angeblich sieht man damit auch die kleinen. Und du kannst eine Universum-Versicherung abschließen, so eine Art Zeit-zurück-Garantie, wenn du sie nicht siehst.
Ich bin da eher skeptisch.
Sigrid Kundela
Es ist wirklich ein erstaunlicher Zufall, dass die Winde immer stärker werden. In dem daraus entstehenden Sturm ist die Luft wirklich rege geworden. Viele Lebewesen der unterschiedlichsten Art kämpfen gegen den durchsichtigen Widerstand. Es bedarf schon eines glücklichen Zufalls, dass man aus dem stürmenden Bild ins Freie geblasen wird. Welch ein Glück, dass sich unser sehnlicher Wunsch erfüllt hat? Dem starken Orkan zu entgehen und einmal in Ruhe tief Luft holen zu können. Man kann wieder ruhig auf zwei Beinen stehen und im Geiste einen gigantischen Beifall geben? Die Erde hat uns wieder!
Gerhild Wortmann
Schwimmen ist eine meiner Leidenschaften; sich tragen lassen, vorwärtskommen ohne Anstrengung, da kenne ich mich aus. Das Element Wasser ist mir sehr nah. Wasser hat auch mit Emotionen zu tun. Aber nun möchte ich ein anderes Element erforschen, das mir fremd, fast feindlich erscheint: Luft. Luft verteilt sich überall, ist in jeder Ritze, in jedem Spalt vorhanden. Luft hat mit dem Geistigen, dem Denken, der Spiritualität zu tun.
Nun entsteige ich dem Fluss in einem gewagten Schwung. Hier schwebe ich, es empfangen mich seltsame Gestalten, alle auf mich konzentriert. Ein Vogel verkündet lauthals meine Ankunft. Will er mich warnen, oder will er die anderen Lebewesen vor mir warnen? Menschliche Gestalten mit Dinosaurierköpfen, sie alle sind in höchster Aufregung, flüstern und raunen sich etwas zu, das ich nicht verstehe. Ein Tumult! Wie soll ich mich da zurechtfinden? In einer Welt, die mir – noch – so fremd ist?
Aufwachen!
Anonym
Ein Wind. Ein Nichts.
Und alles ist anders.
Heinz-Helmut Hadwiger
Ich bin – zwar unüberlegt –
der Sturm, der durch dies Bild fegt,
der sich nach einer Ewigkeit legt
und sich von neuem baldest regt.
Unaufgeregt,
der sich so niederschlägt,
dass man ihn hegt und pflegt,
der auch erwägt,
was ihn wohin denn trägt,
und der sich legt,
wenn er zu unentwegt.
Der neu erregt,
sich wieder regt
und seine Lieder sägt,
der Ichtosaurier,
der Flugsaurier,
der kinderfressende Monstersaurier,
der monströse Dämonensaurier,
der dämonische Katastrophensaurier,
der katastrophale Unglückssaurier,
der unglückliche Pechsaurier,
der geharzte Dschungelbaumsaurier,
der dschungelige Riesensaurier,
der riesige Krokodilsaurier,
der krokodeske Flusspferdsaurier,
der pferdige Nashornsaurier.
der hornige Flaschensaurier,
der flaschenförmige Retortensaurier,
der tortenhafte Pfandsaurier,
der pfundige Arenasaurier,
der aronale Arschsaurier,
der fäkale Falkensaurier,
der faltige Fledermaussaurier,
der fledrige Zwiebelsaurier,
der stinkende Knoblauchsaurier,
der nimmer enden wollende Strichsaurier,
der letzten Endes Punktsaurier.
Eva Abbrederis
Was braut sich da zusammen, auf der anderen Seite der Bucht? Ai, meine Freunde werden von einem heftigen Sturm in die Luft und in die Fluten gewirbelt. Niemand hatte es vorhergesehen, außer den hellhörigen Erdmännchen, die sich alle schon vorsorglich in alter Verbundenheit in ihre Erdlöcher unter meinem Hügel verkrochen haben. Hoffentlich geht das Spektakel für meine Freunde mit einer weichen Bauchlandung gut aus! Ich bin sicher, ihre Stoßgebete sind so heftig, dass sich der Gott der Naturgewalten nochmal beruhigen lässt. Hej, was wäre sein Paradies ohne uns bunten Kreaturen?
Paula, 9 Jahre
Es ist geheimnisvoll. So, als wäre es das erste Handgeschriebene. Es ist unerforscht und steckt voller Geheimnisse. Als wäre es von D’Artagnan geschrieben worden. Es ist das Magische und Fantasievolle. Es ist das Unglaubliche.
Anonym
Hmmmmm...
Jonathan Krupitza
Die Regelmäßigkeit verfolgt mich, wie das Ticken einer Uhr. Wie das Pochen seines Herzens.
Alles folgt einem Muster, es sind immer Muster. Einmal erwische ich mich sogar dabei, wie ich an ein altes Rätsel denke. Es geht um die Lücke in allen Dingen, um Umrisse in farblosen Schemen. Ich kann die Lösung fast greifen, wirklich. Mit dieser silbernen Uhr am Handgelenk, die selten läuft und wenn, dann falsch.
Sie war an seinem Handgelenk, so oft und lang wie die Narbe über seiner Brust. Fast so lang wie der goldene Ehering meiner Mutter. Fast so lange wie ich in seinem Leben war und er in dem meinen.
Jetzt ist sie an meinem Gelenk und um ein Haar, in den ersten Minuten nachdem ich sie von seinem Leichnam behutsam entfernt habe, hätte ich wirklich alles verstanden. Hätte das Rätsel gelöst.
Für einen Augenblick war mir, als hätte ich alles begreifen können.
Die Uhr begleitet mich. Bis an die stürmischen Klippen Irlands, dorthin wo auf den Kirchendächern die Fische schwimmen und die Grabstätten zu Parks umfunktioniert werden. Ich trage die Uhr hinauf bis in die zerklüfteten Gebirgszüge Spaniens, hinein in Wälder voller verbrannter Kiefern. Sie ist bei mir, als ich meine Füße ins kalte Nass des Meeres gebe und in den warmen Sand an langen, einsamen Stränden.
Weil er es nicht mehr tun kann, begleitet sie mich als ich per Anhalter durchs flache Land komme und wenn ich zu sehr weine, halte ich sie mir an mein Ohr bis mich das regelmäßige Ticken seines Herzens wieder beruhigt. Dabei ist es das doch gar nicht. Da ist kein blaues, menschliches Herz mehr in einer alten, verletzlichen Brust.
Da ist eine Urne auf einem Friedhof, ich weiß es. Ich habe sie selbst in die Erde gelassen und die Schaufel in die Hand genommen.
Da ist die Erinnerung. Da sind die letzten Aufgaben, um die er mich gebeten hat. Ich soll Briefe für ihn finden. Versteckt in dunklen Schuhkartons im Haus meiner Kindheit. Ich finde nicht nur die Briefe über ihn. Ich finde
– Fotos von entfernten Orten
– Liebesbekundungen an fremde Menschen
– Hände voller Staub und Spinnweben
– stumpfe Messer und Granatsplitter
Ich finde ein ganzes Leben vor mir. Von einem kleinen Jungen, der in einem Dorf voller Raben auf die Welt kam. Lange bevor ich es war, gerade als Krieg und Trümmer den Erdball prägten. Da sind Geschichten über Jemanden, der gerne fotografiert hat und der viel reiste. Dem viele Menschen etwas bedeuteten und der viele Menschen verloren hat.
Alles, was übrig bleibt, ist wirklich leicht zusammenzufassen.
Er starb an einem Frühlingstag. Und ließ alles zurück, was er so sehr geliebt hat.
All das und eine silberne Uhr an meinem Handgelenk.
Helmut Hostnig
Abschied
Du bist sicher müde, sagt Mama. Das sagt sie, weil es sie selbst schon so anstrengt, wenigstens zum Essen aufstehen und in der Küche sitzen zu müssen, und es sie entlastet, auf mich keine Rücksicht nehmen zu müssen, wenn sie mich schlafen schickt; sie freut sich zwar, wenn ich da bin, aber es strengt sie auch an, und das, was ich für sie tun will und kann, in ihren Augen vielleicht nur gewollt oder getan wird, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Vielleicht hat sie recht, denn viel ist es nicht, was ich noch für sie tun kann, außer mir einen Platz auf der Bettkante suchen und bei ihr sein, solange sie nicht schläft.
Als ich sie im Rollstuhl über die Straße führte, hat sie zur Nachbarin gesagt: „Mein Sohn. Schiebt welkes Gemüse durch die Gegend.“ Wenn nach dem Tod meines Vaters auch Mutter sterben sollte, bin ich dann noch ein Sohn? Eben noch ging es ihr gut. Selbst für ein Foto war sie zu überreden, das mich im Rollstuhl zeigt, den sie, die Rollen wechselnd, über die Straße zu schieben vorhat. Jetzt aber sitzt sie teilnahmslos da, hält meine Hand, die sie nicht mehr loslassen will und schweigt, während die Pflegehilfe aus Rumänien ihr Klagelied anstimmt, heute Nacht schon wieder kaum geschlafen zu haben, weil Mutter so oft aufs Klo habe müssen und sich dabei „schmutzig“ gemacht hat.
Das Abschiednehmen: Vom Hören, das mit den Menschen verbindet. Vom Sehen und von den anderen Sinneswahrnehmungen, die allesamt halfen, eine Brücke in die Welt zu schlagen; die
schwindenden Sinne. Ganz langsam schwinden sie, wie es eine Kerze tut, deren Flamme allmählich im Wachs ertrinkt, wenn der Docht nicht nachwächst.
Sie muss große Schmerzen haben; dann ruft sie mich, versucht die Bettdecke loszuwerden, versucht sich aufzurichten und sucht meine Hand. „Es sind Krämpfe“, sage ich hilflos. „Sie gehen vorbei. Wirst sehen.“ Der Schmerz lässt nach und sie lässt sich wieder erschöpft in die Kissen sinken.
Darmkrebs im Endstadium. Der Hausarzt hat alle Tabletten bis auf schmerzlindernde abgesetzt. Immer wieder reißt sie sich die Windeln vom Leib, kotet sich ein. Die Pflegekraft aus Rumänien, die kaum Deutsch spricht, versteht nicht, dass Mutter nicht dauernd den Vorwurf hören will, dass sie schmutzig sei. „Schmutzig, schmutzig. Frau Anneliese schmutzig.“ Andererseits kann ich ihre Verzweiflung verstehen, da sie ununterbrochen neben allen anderen Tätigkeiten, die zur Pflege gehören, damit
beschäftigt ist, Mutter sauber zu machen und die Bettwäsche zu waschen, sie zum Trocknen aufzuhängen und das Bett neu zu beziehen. Kaum bin ich da, zeigt sie mir die kotverschmierten Windeln. Ja, verdammt nochmal! Was soll ich damit? Ich entlaste sie, so gut ich kann. Eigentlich müsste nun jemand rund um die Uhr an ihrem Bett sitzen. Das kann niemand leisten. Heute habe ich ihr einen Body gekauft und das in der Annahme, dass sie sich so nicht mehr selbst und ohne
Hilfe von außen von den Windeln befreien kann. Keine Chance.
Ich kann meiner Mutter nicht Windeln anlegen und sie auch nicht waschen. Ich kann und will meine Mutter nicht nackt sehen. Sie kann nichts dafür, dass sie keine Scham mehr kennt. Sie ist wie ein Kind und genauso hilflos, trotzig und stur. Dann wieder vollkommen teilnahmslos. Ich verstehe ihre Empörung. Wir, ihre Kinder, haben sie Pflegekräften ausgeliefert, mit denen sie sich – schon der Sprache wegen – kaum verständigen oder verständlich machen kann. Das fällt sogar mir schwer und es gibt Situationen, wo ich passen muss, weil das Gestammel nur noch gedeutet werden kann. Ich will nicht, dass sie mit Mutter schimpft. Sie hört nur „Annaliesa schmutzig, alles schmutzig. Du Klo, wenn Gangstuhl, ja?“ Gangstuhl ist Stuhlgang. „Besser nicht Klo, du Windel, ja in Windel“. Marianna aus
Rumänien, die ihre kleine Pension von 250 Euro aufbessern will, ist vollkommen überfordert. Nie noch hat sie sterbebegleitet. Sie hofft, dass Mutter nicht stirbt, bevor ihr Turnus zu Ende ist. Sie macht das, weil sie ihre Töchter unterstützen will, die zusammen 9 Kinder haben.
Mutter hat aufgegeben; lässt alles über sich ergehen: „Hab schon einmal eine Diktatur überlebt.“ Das hat sie gesagt, als es ihr noch besser ging und sie noch zu kleinen widerständigen Handlungen in der Lage war. Alle 10 Minuten will Mutter jetzt aufs Klo. Das ist neu. Das geht nicht. Das sehe ich ein. Sie will nicht in die Windeln machen. Auch das verstehe ich. Selbst in der Zeit, in welcher der Pflegekraft Ruhe zusteht, wird sie gerufen, denn Mutter hat schon wieder ins Bett gemacht. Das heißt, wieder Bettwäsche wechseln, Bettüberzüge waschen, aufhängen, trocknen. Die Fenster aufreißen. Mutter waschen und das am besten alles gleichzeitig, weil sie nicht einmal mehr gerade sitzen kann, ihr vor Müdigkeit die Augen zufallen und sie vom Stuhl zu fallen droht, während ihr Bett gemacht wird. Sie stiert ins Leere. Ihre Augen können sich nirgends mehr anhalten. Sie hört nur noch, wenn mit ihr geschrien wird. 24 Stunden mal 5 Wochen und dann ein Wechsel mit einer anderen Pflegekraft aus Rumänien, die ebenso wenig mit ihr kommunizieren kann.
Sie darf schon lange nichts mehr machen. Nicht bei der Vorbereitung des Essens helfen, wo sie doch so eine gute Köchin war. Sie sitzt am Küchentisch und ist so müde, dass sie nur noch schlafen will. Das aber darf sie nicht, weil sie sonst in der Nacht keine Ruhe gibt. Natürlich beklagen sie sich, kaum, dass ich die Tür aufmache. Ihre Hilflosigkeit überträgt sich auf mich; ich habe furchtbare Schuldgefühle und möchte nichts als fliehen. Weg. Nur weg von hier. Das Siechtum meiner Mutter
schlägt sich mir aufs Gemüt. Nur nicht so alt und hinfällig werden. Nein. Bitte nicht.
Wenn mir nach Weinen war, habe ich mir als Kind vorgestellt, dass meine Mutter gestorben ist. Vielleicht hat er sich das sogar manchmal gewünscht. Dann wäre er eine Waise gewesen und alle hätten ihn bemitleidet. Es kann aber auch sein, dass er sich das vorgestellt hat, weil Mutter ihm und seinen Geschwistern, wenn sie wieder einmal stritten, gedroht hat, sie zu verlassen, nachdem schon der Vater gegangen war. Das hat ihm damals große Angst gemacht und er ist mit seinen Geschwistern auf die Straße gegangen, und dann haben sie zu dritt „Mama“ gerufen. „Mama, komm zurück!“ Vielleicht hat er sie auch deswegen sterben lassen, um sich zu wappnen. Dass jemand nicht mehr
wiederkommt, weil man nicht brav war, so etwas kann jeden Tag, jede Stunde geschehen, sogar in der Nacht, wenn du träumst und dann im Traum aufwachst und du plötzlich noch eine Schwester bekommen hast, weil deine Tante mit dem Onkel umgekommen ist bei einem Unfall mit dem Auto, mit dem sie auf dem Weg zu deiner Mutter waren. Für alles wollte er gerüstet sein, auch für das Schlimmste, und das kann man nur, wenn man es vorwegnimmt oder sich vorstellt, dass es schon geschehen ist. Darin hat er sich schon als Kind geübt, sich alles Mögliche vorzustellen, um mit Freude oder Entsetzen festzustellen, dass, was man sich vorgestellt hat, auch eintreffen kann. Ja, er hat sie in seinem Kopf sterben lassen, wenn er wütend war auf sie und er sich rächen wollte. Da lag sie dann aufgebahrt mit zum Beten verschränkten Händen in einem schwarzen, mit Goldleisten verzierten Sarg, wie er es in der Leichenhalle gesehen hat; dieses Bild hat er sich so lange vor Augen gehalten, bis er weinen musste, es aber auch gleich wieder verscheuchte, weil er ein schlechtes Gewissen hatte; so etwas auch nur zu denken. Pfui.
Ich habe mich auf das Unvermeidbare vorzubereiten versucht. Ich wage es kaum zu sagen, aber es ist so: Im Kopf schreibe ich unentwegt an der Rede, die ich an Mutters Grab halten will. Niemand erwartet das von mir. Niemand hat mir das aufgetragen, auch meine Geschwister nicht, aber ich weiß, dass ich es tun werde, weil ich den Gedanken nicht ertrage, dass sie wortlos beigesetzt wird oder wir einen Priester rufen, der sagt, was wir uns gewünscht hätten, dass es gesagt wird. Jemand, der Mutter
eben nur vom Hörensagen kennt.
Und? Ist sie fertig deine Rede? Die wird nie fertig. Ich komme über keinen Anfang nicht hinaus. Manchmal glaube ich, ich hätte den ersten Satz gefunden, mit dem ich einleiten will, dann aber verwerfe ich ihn wieder, dann wieder halte ich sie im Stegreif, meine Rede, und weiß wenig
später nicht mehr, was ich gesagt habe. Das verfolgt mich bis in meine Träume. Heute zum Beispiel bin ich im Traum durch die Straßen einer mir unbekannten Stadt getaumelt. Ich habe ein auf zwei Seiten beschriebenes Papier, das ich jeden Augenblick aus der Rocktasche nehme. Darauf steht, was ich sagen will, wenn es so weit ist, aber es kommt nie, es ist nie so weit. Außerdem ist auf dem Papier nichts. Es ist leer. Von allen Seiten aber werde ich bedrängt, von Menschen, die mich wie Hunde anfallen und ankläffen: Beeil dich! Du bist zu spät! Du wirst zu spät kommen, wenn du dich nicht beeilst. Ich renne, dass mir der Schweiß von der Stirn rinnt. Stiegen auf und Stiegen ab und komme endlich in einen Raum mit einem Stuhl. Ein leerer Raum mit nichts als einem Stuhl. Dort in der Mitte sitzt Mutter und hat einen Kohlkopf im Schoß, den rupft sie, als hätte er Federn. Leider habe ich nicht darauf geachtet, ob der Kohl faul oder welk war. Dann nämlich stehen dem Träumenden schlimme Zeiten bevor.
Ich muss noch, ich sollte noch; so viel sollte ich noch, muss ich noch. Du willst mir dauernd sagen, dass ich gar nichts mehr muss; dass alles schon getan ist; dass nichts mehr zu tun ist, aber weißt du, es ist in meinem Kopf und ich krieg’s nicht raus. Ich muss Ordnung machen; ich muss das alles noch in
Ordnung bringen. Ich muss Ordnung machen. Ich weiß, dass ich das nicht mehr schaffe, nie geschafft habe; immer alles angefangen, nie etwas zu Ende gebracht habe. Das brauchst du mir nicht sagen. Vielleicht aber bringt mir das nahe Ende das, was ich nicht zu Ende gebracht habe, von selbst und ohne mein Zutun. Vielleicht muss ich wirklich nichts mehr tun und kann die Hände in den Schoß
legen und einfach abwarten, dass sich die Dinge von selbst regeln, die ich in Ordnung bringen will. Dabei weiß ich gar nicht, was es ist, was ich noch in Ordnung bringen muss, bevor die Ordnung der Dinge von selbst eintrifft und mich vielleicht damit überrascht, dass es sie gar nicht gibt. Wäre zu überlegen. Da hast du Recht, dass das vielleicht eine gute Idee wäre, ein Testament zu schreiben, in welchem ich mich selbst anklage, nicht die gewollte Ordnung noch zu Lebzeiten hergestellt zu haben. Ich könnte die Hinterbliebenen aufrufen, meinen letzten Willen zu vollstrecken, indem sie die Ordnung schaffen, die mir nicht gelungen ist. Vielleicht aber kann ich mich jetzt schon damit abfinden, dass es nicht die Ordnung sein wird, die ich mir gewünscht habe. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass nicht immer alles drunter und drüber geht in meinem Kopf. Da schaut es aus, dass es einem grausen könnt’. Es ist aber der einzige Platz, wo ich daheim bin. Was ich daheim nenne, war immer nur in meinem Kopf, auch wenn es in ihm drunter und drüber geht und in ihm keine Ordnung ist. Da kommt alles daher – von früher und noch vor dem Früher – und überspült mich. Es kommt in Wellen, braust auf, landet aus, und schon kommt die nächste und nichts hält sie auf. Was sie mir bringt? Jetzt? Eine Zeile aus einem Gedicht, das ich einmal gelesen haben muss. Bruchstückhaft ist es plötzlich da. Ungerufen:
Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
die Krallen …
Das ist von Wilhelm Busch. Ja, der hatte Humor. Aber wie ging es weiter?
Heute Nacht von Wilfried geträumt, dass er gestorben sei. Seine Frau hat mich nicht zur Beerdigung lassen. Hätte ich doch nie das Haus… Wie du am Ende deines Lebens wünschest gelebt zu haben, so kannst du jetzt schon leben… Wie oft habe ich mir diesen Satz vorgesagt. Was hat es genützt? Vielleicht wollte ich so leben? Vielleicht hab’ ich einfach nicht anders können. Quellen des Trostes? Bin mit zu vielem gleichzeitig beschäftigt; kann dem Bild nicht die Bedeutung schenken, die es
haben will; in dem Augenblick, wo ich es mir anschauen will, ist es weg. Als würde ich in ein Museum gehen und vor einem Gemälde stehen, das sich – je länger ich schaue – in Farben und Formen auflöst, mich an etwas erinnern will, was ich vergessen habe; was ich vergessen wollte, weil die Erinnerung zu weh tut; bis sich die Leinwand von der Wand nicht mehr unterscheidet, auf der es
aufgehängt ist. Alles weiß. Kein Laut mehr. Ich bin allein. Und weil mich doch der Kater frisst, so will ich keine Zeit verlieren…
Ein Rezept. Alles ist da, nur die Zutaten fehlen. Die Todesnachrichten. In Trauer … So jung? Nichts mehr ausschneiden. Wozu. Keine Lust mehr. Eine Überschrift. Eine Schlagzeile. Ein Buchtitel: Ich habe alles gelebt! Hab’ ich das? War es erfüllte Zeit oder nur eine Fülle von Zeit? Bunt ist keine Farbe. Was soll ich damit? Es läutet an der Tür. Ein Polizist. Verlegen dreht er seine Dienstmütze in den Händen: Ihre Schwester ist… Wo kommt das plötzlich her? Weg. Nichts wie weg.
Es hat nicht geläutet. Schon lange hat es nicht mehr geläutet. Wer soll mich noch besuchen kommen? Auf den Tod warten. Wie lange warte ich schon? Auf die Liebe? Ich weiß um das Gesetz, dass beides nur erlangt werden kann, wenn es mit Unbeteiligtheit gefordert wird. Unter die Sichel ist sie gekommen, die blaue Blume. Die Kinder weit weg. Haben ihr eigenes Leben. Mit Schmerzen gebären und ziehen ihre Kinder groß die Frauen, die Katzen tun es ohne zu miauen. Woher kommt das? Von wem hab’ ich das? Im Nachbargarten die Zelte der Marokkaner. Warum muss ich mich auf dem Dachboden verstecken? Nicht einmal im Schlaf hab’ ich Ruhe. Auch in meinen Träumen keine Ordnung. Auch dort nicht. Kerkermeisters Töchterle. So haben sie mich gerufen, als ich klein war. Ich komme jetzt zu dir, ja? Wo ist der Oberarzt? Wo die Oberschwester? Männer, die nach mir schreien. Und ich allein in dem großen Saal. Nacht. In domine. Hörst du es auch? Benedictum. Eingeflogen aus der Sahara mit Gips bis zum Becken. Wie alt war ich da? Achtzehn? Neunzehn? Neunzehn. Zams in Tirol. Ein Chor. Was? Du hörst ihn nicht? Bist du taub? Das Spital ist ausgebombt. Wann war das? Spreche ich mit mir selbst? Ist wohl so. Vati muss den Kuckuck kleben auf die Hoffnung. Nein. Vati hat keinen Kuckuck nirgendwohin geklebt. Er hat geschaut, dass die letzte Kuh im Stall bleibt; dass sie überleben können, die Bauern. Ich spreche mit dir in meinem Kopf. Ich habe dich erfunden. In Wirklichkeit gibt es dich nicht. Aber was ist schon wirklich? Du bist es, weil ich mir dich einbilde. Du bist ich. Ich kann zu dir nicht sagen: Geh! Ich will dich nicht. Wohin sollst du denn gehen? Du gehst mit mir. Du bist ja ich. Ich will nicht mehr. Schon lange will ich nicht mehr. Wenn ich nur sterben könnt’. Diese Schmerzen. Lasst mich heimgehen. Heimat, bist du… Was will die fremde Frau von mir? Lasst mich doch einfach in Ruhe. Ich kann nicht mehr sprechen. Genug gesprochen. Ich kann nicht mehr schlucken. Genug geschluckt. Zu viel geschluckt. So viel schlucken müssen. Ich habe die Augen geschlossen. Genug gesehen. So viel gesehen. Bald seid ihr mich los. Was für eine Ordnung. Was für ein Gesang. Noten. Wie sich eine zur anderen fügt. Wie Krähen, die eine nach der anderen auffliegen, einen Schwarm bilden, den Flügelschlag des Nachbarn nutzend. Der Kater kommt dem Vogel näher… Er hat einen Zweig im Schnabel. Bilder jenseits von Sprache. Bilder, die sich auf- und ablösen: Herbst, Hochzeit, Geigen, Ahorn, Flug, Fuge, Sonne; will noch ein wenig … pfeifen .... Gefieder, Flügel, Federn, Fliegen, Fliehen, … Der Vogel. Der Kater. Noch spielt er mit mir. Du kannst gehen, wenn du willst! Wer erlaubt mir das? Bist du es? Was willst du mir sagen? Ich gehe jetzt. Ja, ich will. Das ist wie bei der Hochzeit. Komm Tod; nimm mich! Ich bin dein. Ich will dein sein. Ich höre nicht mehr. So viel schon gehört. Zu viel gehört. Zu viel vom
Gehörtsichnicht. Zuviel hörig gewesen. Lasst mich in Ruhe. Das ist in Ordnung so. Ordnung. Endlich. Alles endlich in Ordnung. Endlich. Alles endlich. In Ordnung.
Glaube ich wirklich, ich kann mich hineindenken in den Kopf meiner sterbenden Mutter? Glaube ich das wirklich, ihr von den bebenden Lippen, die lautlose Sätze bilden, einen Höllenritt durch ihr langes Leben ablesen zu können. Sie, die seit zwei Tagen mit geschlossenen Augen daliegt und kaum mehr auf etwas reagiert. Ist es ein Beten? Mit wem spricht sie? Was?
Schwester Grete ist gekommen; hat schon meine Oma sterbebegleitet. Nein; sie ist nicht leicht gegangen, deine Oma, sagt sie, während sie die Wangen meiner Mutter streichelt, die gurgelnd nach Luft ringt, weil sich Wasser in ihrer Lunge gebildet hat. Gut, dass es heute diese Schmerzmittel gibt, sagt sie. Ich habe viele Hausärzte erlebt, die ihre Patienten über vierzig Jahre und mehr begleitet haben, aber sie sind nicht gekommen, als sie nach ihnen verlangt haben in ihrer letzten Stunde; manch einer hat mir sogar die schmerzlindernden Medikamente für meine Patienten verweigert. Da lernst du sie kennen. Ja, Anneliese, ist schon recht. Es ist alles gut. Willst einen Tee? Erkennst mich noch? Ich bin’s. Die Grete. Wir haben uns viel zum Erzählen g’habt, die Anneliese und ich. Wenn’s ganz wichtig war, hat sie mich g’rufen. Ein Leben lang bin ich dir dankbar für das, was du meiner Mutter ’tan hast, hat sie immer wieder g’sagt. Stimmt’s Anneliese? Jetzt darfst auch du gehen, sagt sie, den Puls ihrer Hand suchend. Ist schon ganz schwach. Wird nimmer lang dauern. Morgen kann ich leider nicht kommen. Am Wochenende kommt mein Bub. Der ist behindert. Vom Wickeltisch g’fallen ist er. Verzeih ich mir nie. Bin nur schnell zum Herd, weil’s Wasser kocht’ hat, und schon war’s passiert. Er ist jetzt auch schon vierzig und im Heim bei der Lebenshilfe. Geht ihm nicht gut dort, aber was soll ich machen? Deine Mama war eine gute Frau. Gell, Anneliese, hast es nicht leicht g’habt im Leben, aber jetzt hast es bald überstanden.
Das Zimmer, in dem Mutter jetzt schon wie aufgebahrt liegt, war sein Kinderzimmer. Dort, wo jetzt das monströse Spitalsbett steht, hat er Schule gespielt mit seinen Geschwistern. Es regnet und ein Wind pfeift ums Haus. In diesem Zimmer war es immer schon dunkel. Sogar als der Birnbaum vor dem Fenster gefällt worden ist, dessen Äste ihn einluden, aus dem Zimmer ins Freie zu klettern. Selbst nachher musste schon am frühen Nachmittag das Licht eingeschaltet werden. Warum Mutter dieses Zimmer gewählt hat? Sie hätte doch auch das zu ihrem Zimmer machen können, in das die
Sonne einfällt.
Ich gehe durch das Haus mit den vielen Zimmern. Wir haben Besuch. Ein Ehepaar mit seinen drei Kindern. Die Frau sagt im Vorbeigehen zu ihrem Mann: „Ich lasse mich scheiden!“ Ich suche nach Decken für alle, denn es ist Zeit zum Schlafengehen. Der Mann ist sein Vater. Er hat für einen Sekundenbruchteil Erstaunen gezeigt, gleich darauf aber ihren Vorschlag akzeptiert. Die Frau ist seine Mutter. Sie trägt jetzt ein mausgraues Kostüm und sitzt in einer weißen Schachtel kleiner als ein Schuhkarton; so klein und winzig in den Augen des träumenden Sohnes, der nun erwachsen ist, dass er
aufpassen muss, dass sie nicht übersehen wird. Meine Eltern. Das ist mir schon seit Ewigkeiten nicht mehr über die Lippen gekommen. Immer habe ich von ihnen als meine Mutter und als mein Vater gesprochen. Nie: Meine Eltern. Jetzt im Tod wenigstens sind sie wieder zusammen. So, wie ich es mir immer als Kind so sehnlich gewünscht habe.
Ich wünsche mir, dass sie gehen kann und nicht leiden muss und vor allem nicht ersticken am Schleim, den wegzuhusten ihr nicht mehr möglich ist. Manchmal ruft sie meinen Namen oder den meiner Schwester, die morgen kommen wird und hofft, sie noch lebend anzutreffen. Ich werde sie
vorbereiten müssen. Nachdem Frau Siglinde ihr die falschen Zähne herausgenommen hat, schaut sie mit den hohlen, tief eingefallenen Wangen, der gelblichen Farbe um die Nasenwinkel und dem offenen Mund sehr entstellt aus; mehr einer Toten ähnlich, die von Bestattern oder Familienangehörigen noch nicht für den Abschied vorbereitet worden ist. Wäre nicht dieses rasselnde und gurgelnde Ringen nach Luft…
Wir gehen auf eine Zigarette hinaus. Ich kann und will für seine Schulden nicht mehr aufkommen, sagt Siglinde. Jetzt hat er sich sechs Handys gekauft, weil sie gratis sind und bestellt über das Internet die teuersten Möbel, sitzt tagelang in seinem Zimmer oder geht auf den Balkon und beschimpft seine Nachbarn. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Er hat keine Krankheitseinsicht. Er lebt im Glauben, dass Kreditkarten ohne Limit sind. Jetzt wird er gepfändet und sitzt bald auf der Straße. Obdachlos. Was soll ich tun. Es ist immerhin mein Sohn.
Meine Schwester ist da. Endlich Ablöse. Bruder auf dem Weg über den Atlantik schickt elf Emoticons mit einem tränenden Auge. Der Arzt kommt. Es wird sein letzter Besuch sein. Er nimmt die leblose Hand von Mutter, die er gleich darauf mit den Worten „gute Nacht Frau Anneliese“ und einem
herzhaften „auf Wiedersehen“ fallen lässt. Er schaut uns an und wir wissen, dass es aus ist, und es kein Wiedersehen mehr gibt. Auch seine Mutter liegt im Sterben.
Ich schaue aus dem Fenster. Dort, wo das Nachbarhaus stand, gähnt ein von Regenwasser angefülltes Loch. Es wurde abgerissen, nachdem die Frau gestorben war, die Im Westen nichts Neues von
Erich Maria Remarque ins Französische übersetzt und mit ihrer Sprachkenntnis verhindert hat, dass sich die Marokkaner im Garten und die Offiziere im Haus meiner Großeltern einquartiert haben. Die schwarze Katze, die meiner Mutter gehört, und für die wir noch keinen Platz gefunden haben, streift über das Gelände mit der vom Regen aufgeweichten Erde. Mit meiner Mutter werde auch ich meine
Heimat verlieren.
Die Pappel ist gefällt worden. In allen Jahreszeiten war sie schön. Selbst im Winter, wenn sie nackt
war und aussah wie ein Schattenriss mit den haarfeinen Verästelungen ihrer himmelan strebenden Zweige, die keine Schere so schneiden und auf den blassblauen Grund einer fahlen Wintersonne kleben kann. Erst jetzt, da es sie nicht mehr gibt, sehe ich sie. Dabei hatte ich sie von diesem Fenster aus schon immer gesehen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Vielleicht, weil sie einfach da war und gar nicht wegzudenken, viel zu selbstverständlich, um mir über sie Gedanken zu machen.
Jetzt eben kommt wieder die Sonne hervor und schickt sich an, hinter den Horizont zu kippen; sie illuminiert den Himmel selbst nach ihrem Untergang.
Auf gleicher Höhe mit seinem Wipfel, denn er hat keine Krone, ist der Mond aufgegangen. Noch gibt er von sich nur den untersten Rand als eine Sichel preis. Wie eine goldgezimmerte Schale ist diese Sichel, in die sich das Licht weit entfernter Sterne ergießt, die nach und nach dem Mond
Gesellschaft leisten. Irgendwann, wenn die Menschen in ihren Häusern schon längst sich ihren Träumen anvertraut haben, schwimmt er wie ein goldener Kugelfisch hinter dem Geäst der Pappel vorbei, die nun die Gestalt von sich in der Strömung wiegenden Algen angenommen hat. Mit ihrer Herzwurzel züngelt sie in die Tiefen des Erdreichs und wenn sie auf Felsen stößt, verbreitet sie sich
wie ein rasendes Pilzgeflecht, das die Gunst der Stunde nutzt, um alles aufzubrechen. Sie reißt ihre Wurzeln aus, um stolpernd gehen zu lernen, um einmal nur – wie jede Nacht – laufend dem goldenen Ball nachzujagen, der gerade dann in den Brunnen fällt, wenn die Menschen aufwachen. Dann wieder steht sie da, als wäre nichts gewesen und auch ich tue so, als wüsste ich nicht, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, wären sie mir nicht vor der Zeit zugefallen, als meine Schwester mich rief und Mutter gegangen war.
Nach der Totenwache kommt der Amtsarzt, fühlt den Puls, öffnet die Augendeckel, leuchtet mit einer Taschenlampe in das gebrochene Auge, schreibt die Sterbeurkunde, sagt „mein Beileid“ und geht. Dann kommen die Bestatter, heben sie vom Bett und stecken das ausgelöschte Ich in einen mit Zippverschluss an beiden Rändern versehenen übergroßen Kleidersack, der dort, wo der Kopf ist, durchsichtig bleibt. Sie tun das so behutsam, als könnten sie ihr noch weh tun. Sie fragen, ob die Ringe an ihrem Finger bleiben sollen, was wir bejahen. Wir geben ihnen das blaue Sommerkostüm mit und die Schlafkatze, die ihre Mutter noch gefertigt hat. Dann wird ihr Körper auf eine Aluminiumliege gelegt, aus dem Haus getragen und in den Leichenwagen gebracht. Ich weiß nicht, ob es angebracht ist oder nicht, aber ich stecke einem der beiden Trinkgeld zu. Die Wagentüren hinten und jetzt vorne werden zugeknallt, der Motor angelassen und wir schauen dem schwarzen Auto noch nach, als es schon längst außer Sicht und nicht mehr hörbar ist.
Ich werde in der Aufbahrungshalle stehen und die Rede halten, auf die ich mich so lange vorbereitet habe, ohne über den ersten Satz hinauszukommen. Ganz sicher werde ich mit dem Gedicht von Wilhelm Busch aufhören, das Mutter noch auswendig gewusst und mir oft vorgesagt hat:
Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil daß so ist
und weil mich doch der Kater frißt,
so will ich keine Zeit verlieren,
will noch ein wenig quinquillieren
und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.
Ja, Mutter hatte Humor. Auch ich will mir diesen Vogel zum Vorbild nehmen, der im Wissen darum, dass das Leben endlich und der Tod unwiderruflich ist, nicht aufhört, sein Liedchen zu pfeifen.
R. Kemal Kulaksiz
Wie eine Lawine brachen die Worte ein,
brüsk ins Schwanken kam mein Sein.
Ein kalter Schmerz, ein dunkler Sog,
fürwahr kein Entkommen, stark er zog.
Gab mich hin, bettete mich in Gram,
Tag und Nacht brachten nichts als Harm.
Blicke suchten nach dir, Gedanken bei dir,
Vergessen schier unmöglich, ich und du, wir.
Wie genagelt auf dem Kreuze,
die Linke mit Leid, die Rechte mit Kummer.
Mit der Lanze stieß zu Elend,
doch niemals kam über die Lippen Jammer.
Gekrönt mit einer Dornenkrone, Beißen
tief ins Fleisch die Dorne zweifelsohne.
In Strömen Schweiß und But, salzig und heiß
von Blut gefärbt das Augenweiß.
Gab mich all dem, trug meine Krux,
denn am Ende wird’ ich ein Kind des Glücks.
Zu mancher Zeit im Leben muss schreiten
durchs Höllenfeuer und Dornenregen ein Thor.
Doch gewiss wird er am Ende hören
den Engelschor.
Franziska Arnhold
Diese Fülle, diese Nacktheit – all das, was fehlt. Sich an den Händen fassen, alle zusammen, tanzen und feiern. Ekstase, sich vergessen im anderen. Das pralle Leben in echt. Dellen im Po und in den Schenkeln statt Zoomübertragung. Wie wollen sie nackt Fahrrad fahren? Das geht sich ohnehin nicht so gut aus in Wien.
Die wundersamen und übernatürlichen Eigenschaften der Tiere. Der Eishai hat einen Parasiten auf dem Auge, der ihn aber nicht sonderlich stört, weil Gucken nicht zu seinen bevorzugten Eigenschaften zählt. 400 Jahre Dunkelheit und Kälte.
2021 hieß es auf einmal frohes und gesundes neues Jahr… Vor allem gesundes. Warum vor allem gesundes? Glück und Erfüllung sind wichtiger als Gesundheit. Der Körper ist vergänglich, die Seele braucht Liebe, Austausch, wahre Verbindung. Das Spüren des warmen Sommerwindes auf der Haut, auf den Haaren, am Körper, den Sinneshaaren an den Beinen. Jemand, der mit einem durch die Nacht fährt. Engel, die einem auf Reisen begegnen, einem Hinweise geben und den weiteren Weg weisen.
Aber wie wollen die nackt Fahrrad fahren?
d*pilcik
01001000110000111011011001101000011001010111001001100101 01001101110000111010010001100011011010000111010001100101. Nomen est omen. Aber gibt es keine höheren Mächte, außer den Geist und die Seele im Jetzt, so bin ich dieser verpflichtet im Heute. Intensiv, voll dankbarer Freude und gelassener Hingebung.
Iva Savovic
Das Paradies, erschaffen und beherrscht von den Göttinnen und ihren Kindern.
Die Liebe scheint so herrlich leicht zu leuchten, getränkt mit Glück und Freude.
Doch gib acht, das vermeintlich Schöne verbirgt oft ein dunkles Geheimnis.
Alexandra Ruth Holzer
reigensehnen getanztes du
rote hoffnung fließend kuss
alabasterjubel fülle
macht in hingegebner ruh
August Wieselmayer
Es ist die Sehnsucht nach Geborgenheit, einem besseren Leben in Zufriedenheit. Wenn es nicht so funktioniert, wie man es sich gewünscht hätte, dann beginnt man zu zweifeln, man begibt sich auf die Suche nach den Ursachen, statt sich an dem, was schon gelungen ist, zu erfreuen und darin Halt und Zufriedenheit zu finden. Alle höheren Mächte, die die Menschen so erfunden haben in ihren diversen Gehirnen, sind aber nichts anderes als Aberglauben, gegen den sich aber einige „Gläubige“ zu wehren versuchen. Denn sie meinen, es besser zu wissen – bzw. besser zu glauben – als andere. Denn Wissen ist das nicht, sondern nur reine Fantasie. Wer immer sich da anstecken lässt, gerät in Gefahr, vor allem sich selbst zu verlieren und seine Sicherheit in dem Unsicheren zu suchen.
Wieviel schöner wäre diese Welt, wenn wir uns gegenseitig bestärken würden in dem, was wir gerne und gut tun. Wenn wir einander als Menschen in Würde begegnen würden und uns nicht auf die Suche nach Fantasieobjekten machten. Ein erfülltes Leben zu finden ist mit realen Personen viel eher möglich, wenn man sich auf das Abenteuer einlässt, den oder die andere/n kennen und verstehen zu lernen.
Meine Hoffnung liegt in der Idee, dass diese Möglichkeit der gegenseitigen Wertschätzung einmal Wirklichkeit wird. Ich denke, dass wir uns – wenn auch sehr langsam – in diese Richtung entwickeln. Geben wir einander Geborgenheit, schaffen wir Zufriedenheit in dem, was wir tun und finden wir so zu einem besseren Leben für alle.
Dajana Novotna
SKANDAL BEIM FEST DER LIEBE!
Beim jährlich stattgefundenen Ehrenfest der Göttin Venus drangen die lebenden Menschen ein! Welche Konsequenzen werden die Organisatorinnen Nymphen tragen? Werden sie mit dem Götterzorn verbannt oder folgt etwa ein Krieg?
Tibur/Tivoli „Alles war wundervoll, wir sangen, wir tanzten mit den Satyrn, wir liebten“, erzählt erschöpft die Nymphe vom Stamm der Oreaden. „Ich kann mich nicht mehr erinnern, was danach passiert ist, ich habe nur Schreie gehört und wild abfliegende Putten gesehen. Die Menschen habe ich mit eigenen Augen nicht gesehen.“ Unsere Redaktion stieß sowohl auf die Hauptorganisatorin, die folgendes zu sagen hatte: „Das sollte nie passieren. Wir wissen, dass es streng verboten ist, sich mit den Menschen ohne Wissen der Götter zu verkuppeln und wir halten uns an diese Regel! Ich weiß, leider nicht, was schiefgegangen ist. Jedenfalls werde ich als Organisatorin dafür die volle Verantwortung tragen.“
Waren aber die Beteiligten wirklich so sehr von den Menschen überrascht? Alle wissen, dass man vor den Göttern, leider, keine Geheimnisse verstecken kann. Dem allessehenden Gott Merkur flüchtet nichts und er war, seinen Worten nach, Augenzeuge einer Verschwörung: „Ich sah mehrere Frauen, die beim Fest mitgemacht haben. Die eine Frau mit dem Schleier hat sogar das Ritual vor der Venusstatue vollbracht. Die Nymphen, Satyrn und Putten schienen von deren Präsenz gar nicht überrascht zu sein, ganz im Gegenteil: Sie haben die Menschen freiwillig angenommen! Bittere, pure Verschwörung gegen die Götter! Jupiter muss einschreiten!“
Jupiter selbst sowie die Liebesgöttin Venus nehmen zum gesamten Skandal derweil noch keine Stellung und reagieren nicht auf die Fragen der Medien. Was genau ist mit Merkurs „Verschwörung“ gemeint? Man hört nämlich seit längerer Zeit einige Gerüchte von Nymphen, die sich mit den Menschen regelmäßig treffen und bestimmte Pläne gegen die Götter entwerfen. Stimmen diese Aussagen von anonymen Zeugen? Belügen uns die Nymphen? Kommt es bald zum apokalyptischen Krieg zwischen den Göttern und Nymphen, der auch die Menschheit betreffen und auslöschen wird?! Wir halten Sie auf dem Laufenden!
Anonym
Ich sehe mir dieses Bild an und fühle mich gleich davon angezogen. Die Frau auf der linken Seite schaut mich fröhlich an und bittet mich, an dieser Party teilzunehmen. Aber ich trage immer noch Kleidung! Jeder tanzt in einem unendlichen Wirbel, der wie in einem Wurmloch mich in das Bild ansaugt. Unmöglich zu widerstehen!
Ich verliere mich in der Tabelle, verliere meine Orientierung, ich verliere meinen Verstand. Alles bewegt sich, dreht sich, jetzt, in voller Trägheit, wird mein Körper von einer Runde von Putten geführt.
Plötzlich sehe ich sie! Ruhig und unbeweglich wie die Drehachse eines Karussells. Ironischerweise versteckt sie inmitten all dieser nackten Körper demütig ihre Brüste und ihr Geschlecht.
Venus, die gewaltige Macht der Liebe, war am Ende nicht so frei.
Arthur Mohl
Die Macht des Himmels
„Kind, pass auf dich auf!“
„Keine Sorge, Oma. Es wird schon nichts passieren.“
„Doch Kind, wenn Gott es will, wird es passieren. Doch dein Schicksal ist noch nicht in Stein gemeißelt.“
„Papperlapapp! Hör auf mit dieser Scharlatanerie. Ich bin Wissenschaftler, ich glaube nicht.“
„Wissen und glauben sind aber keine Gegensätze Kind. Du glaubst auch an Hoffnung. Du hast doch Hoffnung, Kind, oder?“
„Ich brauche nicht hoffen, Oma. Ich weiß, dass ich meine Ziele erreiche.“
„Ach, dein verfluchter Rabenvater! Was hat er dir denn beigebracht! Soll ihn der Teufel holen und du, mein Kind, wirst noch was erleben, wenn du nicht beginnst die Macht des Himmels zu fürchten.“
„Ja, ja Oma, ich habe dich auch lieb. Ich muss aber nun gehen. Wir sehen uns, wenn ich von meiner Mission zurückkomme.“
„Wenn, mein Kind. Wenn!“
„Ok, Oma, ich muss jetzt echt gehen. Mein Chauffeur wird schon ungeduldig sein.“
„Warte kurz mein Kind. Das wollte ich dir noch geben. Diese Halskette gehörte deinem Großvater. Er trug sie jeden Tag und dank ihr überlebte er den Krieg. Trage sie, und sie wird dich beschützen. Versprich es mir.“
„Ja, Oma, ich verspreche es dir.“
„Gut Kind. Vielleicht findest du doch noch den richtigen Weg. Hier habe ich dir noch einen Kuchen eingepackt. Die bei der Behörde geben dir ja nichts Gescheites zu essen.“
Ein paar Tage später musste ich an dieses Gespräch zurückdenken. Keine Ahnung, wieso. Ich hatte die blöde Kette mit dem leicht verbogenen Kreuz in eine Schublade geschmissen und nicht einmal anprobiert. Wieso sollte ich überhaupt auf diese alte Frau hören? Doch ihre Worte schienen mich nicht loszulassen. Einen Tag zuvor kam heraus, dass der Start verschoben werden musste wegen schlechtem Wetter. Nichts Neues für eine Weltraumbehörde, doch ein schlechtes Omen für die erste bemannte Mars-Mission in Jahren.
„Was? Wirst du etwa abergläubisch, wegen etwas schlechtem Wetter?“
Es bleib aber nicht bei schlechtem Wetter. Die Rakete wurde durch den Sturm beschädigt und verzögerte den Start erneut. Dann begannen Unfälle zu passieren. Zuerst kamen nur Material und Gerät zu schaden, aber dann gab es die ersten Verletzungen und kurz darauf das erste Todesopfer. Am selben Tag rief mich Karl De Cres, unser Missionsleiter, in sein Büro. Er stand vor einem großen Ölgemälde, das er irgendwie in diesem kleinen Büro aufgehängt hatte.
„Hallo, danke, dass du gekommen bist.“ Ich blieb im Raum stehen. Er wandte mir noch immer den Rücken zu. „Siehst du dieses Bild?“ Ich wollte schon sagen „Wie könnte man das nicht übersehen“, doch entschied mich anders.
„Ja.“
„Ich meine nicht physisch, sondern psychisch.“
„Wie meinst du das?“
„Spürst du das Bild? Sagt es dir was? Bringt es dich zum Nachdenken oder beantwortet es für dich Fragen?“
„Nein. Für mich ist das nur ein großes Bild.“
„Du bist zu logisch. Es ist nicht alles nur aus A folgt B. Manchmal gibt es ein mysteriöses C, das man weder definieren noch zuordnen kann.“
„Und was hat das mit dem Bild zu tun?“
„Dies ist eine original getreue Kopie von Pieter Bruegels Der düstere Tag. Man sieht Menschen schnell Holz hacken, in der Ferne liegt Schnee und vom Meer aus zieht ein Sturm auf. Es zeigt eine Gesellschaft im Wandel. Eine Gesellschaft, die sich auf die unberechenbaren Mächte der Natur vorbereitet. Verstehst du was ich damit sagen möchte?“
„Nein.“
„Was ich versuche, dir zu sagen ist, dass wir die Holzfäller sind und nicht mehr lange Zeit haben, bis der Sturm uns überwältigen wird.“
„Wir werden also einen Start riskieren, egal wie schlecht die Bedingungen sind?“
„Ja. Es ist eine schwere Entscheidung, aber wir haben keine andere Wahl. Wenn die Rakete nicht jetzt startet, wird sie niemals starten. Es hat so viel Arbeit gekostet, die Kommission überhaupt zu überreden, eine neue Mission in Betracht zu ziehen und ein Rückzieher jetzt wäre unser Ende.“
„Dann werden wir aber enden wie die erste Mars-Mission. Entweder verbrennen wir, wenn wir die Atmosphäre erreichen oder starten nicht einmal.“
Karl drehte sich ruckartig um. Sein Gesicht war rot und seine Augen strahlten vor Wut.
„Ihr werdet starten und ihr werdet heil am Mars ankommen! Versagen ist keine Option. Jetzt gehe und informiere dein Team, das ihr morgen starten werdet. Viel Erfolg.“
Ich schlug die Zimmertür vor Wut zu.
„Trottel!“
Karl hatte aber recht. Wir standen an einer Wand und nun gab es nur mehr eine Option. Ich hasste mich dafür, dass ich ihm recht gab. Tränen aus purem Zorn rannten mein Gesicht herab. Ich riss die Schublade auf und nahm das Kreuz in die Hand. Ein Teil von mir wollte das blöde Teil einfach wegschmeißen. Der andere wollte, dass ich es mir umhänge. Nicht, dass ich an irgendwelche übernatürlichen Kräfte nun glaubte, sondern einfach, weil es ein Andenken an zu Hause, an meine Familie wäre. Für eine gefühlte Ewigkeit starrte ich das alte Ding an. Plötzlich klopfte es und ich ließ es fallen. Zuerst drehte ich mich zur Tür um, aber da war keiner. Dann sah ich den Übeltäter. Ein kleiner schwarzer Rabe stand vor der Balkontür und starrte mich an.
„Blödes Vieh. Du hast mich erschreckt.“
Es lehnte den Kopf zur Seite und schaute mich mit seinen tiefschwarzen Augen an. Mir wurde kalt und ich wandte meinen Blick ab. Ich bückte mich nach der Halskette, aber ich fand sie nicht. Als ich mich wieder zur Terrasse drehte, war der Rabe verschwunden.
Mein Team aus sechs saß in der engen Kapsel. Der Countdown lief runter. Die Bedingungen waren auf keinen Fall ideal für einen Start, aber besser als noch ein paar Tage zuvor. Der Countdown lief gegen null. Alle waren angespannt, besonders ich. Ich konnte in der Nacht nicht schlafen. Der Rabe und das Verschwinden der Kette machte mir noch immer zu schaffen. Ich sollte heute nicht fliegen. Niemand sollte heute fliegen, doch die Behörde und die Presse rechneten mit einem erfolgreichen Start.
„3“
„2“
„1“
Mit unvorstellbarer Kraft schossen wir den Himmel empor. Mensch und Maschine vibrierten durch die Kraft der Triebwerke. Alles schien wie geschmiert zu funktionieren. Wir stiegen immer weiter und weiter empor. Nicht mehr lange und wir hätten die Erde komplett verlassen. Doch dann ging alles schief.
Nicole Lengauer
Schon seit Anbeginn der Zeiten,
ist das Leben ein Suchen und ein Streiten.
Der Mensch nimmt, was die Natur ihm gibt,
er isst, er erschafft, er sucht, er liebt.
Kälte, Dunkelheit, Sturm und Wind,
so manche höhere Macht, die uns in die Knie zwingt.
Krankheit, Widrigkeiten und Trauer,
liegen stets im Alltag auf der Lauer.
Die Suche nach dem reinen Sinn des Strebens,
scheint oft ohne Ziel oder doch vergebens.
Doch es ist die Freiheit der Gedanken, die uns Stärke gibt, wenn wir wanken.
Es ist Ideenreichtum und Kreativität, die den höheren Mächten widersteht.
Denn was auch immer uns das Schicksal offenbart,
jeder sieht es auf die eigene Art.
Unsere Gedanken sind das, was uns bestimmt,
das Leben ist so, wie man es nimmt.
Benjamin Langer
Die Bauern ziehen im Winter in den Wald, um Weidenruten zu schneiden, nachdem die Bäume alle ihre Blätter verloren haben. Diese Arbeit gehört schon seit unvordenklichen Zeiten zum immer wiederkehrenden Jahreskreis. Seit sechs Jahren bin auch ich dabei, zusammen mit meinem Vater. Wie sein Vater vor ihm und dessen Väter vor ihm. Es ist eine anstrengende Arbeit in der Kälte, aber eine wichtige, und ich bin froh, ein Teil davon zu sein.
Nach der Arbeit ziehen wir zurück ins Dorf, wärmen uns, essen und trinken, und feiern zusammen. In diesen Wintertagen, kurz vor der Weihnacht, sind wir uns alle besonders nahe – untereinander und jenen, die vor uns kamen. Hier, in unserer Heimat, unter dem dunklen Blau des Sternenhimmels.
Katarzyna Wojciechowska
Seine heiligste heilige Hoheit U, Sohn des Sonnengottes Moo und der Göttin des Wassers Gwa, im Namen aller Götter und aller Völker, diesseits und jenseits, Herrscher über die Berge Zapalaptu und Futu, von der Großen Schwarzen Linie bis zu dem heiligen Fluss Robaga, über die grüne Ebene Lakalu bis zum Ewigen Meer, Herr über Leben und Tod, Zeit und Raum und Wind, Übermensch und Übertier, unbesiegbar und unverwundbar, unbeirrbar, gut und ewig, ewig und gut. Hogam!
[Visitenkartentext]
Edith Wolfsberger
Mein Name ist Scheherazade. Ich erzähle. Mein Leben hängt davon ab. Der Sultan, mein Gemahl, wird mich töten lassen am kommenden Morgen. Diese Nacht ist unsere Hochzeitsnacht, ich bin geschmückt mit Edelsteinen und kostbaren Gewändern. Inmitten von feinsten Pölstern und erlesenen Teppichen in prächtigen Farben lehnt Schahriar, mein Gemahl, mit geschlossenen Augen und lauscht meinen Worten von Sindbad, dem Seefahrer. Meine Erzählung ist noch nicht zu Ende, als der Tag beginnt. So erbitte ich, meine Geschichte in der nächsten Nacht fortzusetzen. Begierig zu hören, wie es Sindbad auf seiner fünften Reise erging, gestattet mir der Sultan diesen Wunsch. Ich weiß, ich habe viele wunderbare Worte für lange Nächte. Sie werden mein Leben und auch das meines Gemahls retten.
Johannes Walter
Es handelt sich hier um keine einfache Gottfigur, die etwa angebet, besänftigt werden kann, sondern um eine Stabfigur. Also um ein Objekt, das bereits gehalten wird, in die Hand genommen werden kann. Als das Feuer längst alltäglicher, wichtiger Bestandteil unserer Kultur geworden war, rückte diese Gottheit herab in unsere Hände, um das Phänomen der immer noch gefährlichen und wohl nie gänzlich beherrschbaren Naturgewalt Feuer besser zu erfassen und zu steuern. Diese Gottheit des Feuers wurde kulturell transformiert und fassbar gemacht in Form von kulturellen, künstlerischen Darstellungen. Das Wissen über Feuer, Verbrennungsvorgänge, die hohe Macht des Feuers, liegt nun bewusst in unseren Händen. Wir haben die Gottheit, eine höhere Macht, entrückt, entzaubert.
Doch das Feuer brennt weiter, als Attribut unserer geistigen Aktivität, der wunderbaren, kreativen, freien, energiegeladenen geistigen Aktivität des Menschen, auch Kunst zu schaffen. So halten wir das göttliche Feuer, unser Feuer, in Händen, um zu gestalten, um seine Macht zu besitzen. Der Blick in das – uns heute wohl schon entrückte – Gesicht des Feuergottes wird aber in uns niemals den alten Zauber der hohen Macht des Feuers schmälern.
Martina List
Es ist wie bei einem Pow-Wow in New Mexiko. Die dargestellte Person tanzt und trommelt in der Gruppe, um den ersehnten Regen herbeizuholen. Der Kopfaufbau dient der Abwehr von den „Luftgeistern“, die immer wieder versuchen, durch den Kopf in das Bewusstsein zu gelangen. Die Kette ist einerseits Schmuck, anderseits wird das Herz bestärkt, um Kraft für das Ansinnen zu bekommen. Der Umhang ist dazu da, um die Schönheit und den Tanz nach außen zu repräsentieren.
Julian Della Vedova
Wir waren auf unserer Reise bereits weit gekommen. Wir wanderten durch Wälder und weite Ebenen, erklommen steile Hänge und überquerten Schluchten auf Brücken, die so verwittert aussahen, dass man meinen konnte, jedes kleinste Lüftchen würde ihren Fall bedeuten.
Mehrmals hatte ich daran gedacht, die Reise abzubrechen, um endlich wieder die Annehmlichkeiten moderner Gesellschaft genießen zu können. Ordentlicher Kaffee, ein großzügiges Frühstück oder einfach die Möglichkeit, ein warmes Bad zu nehmen, wird umso mehr zu etwas Besonderem, je länger man darauf verzichtet. Doch all das und noch mehr war an diesem Abend weiter weg denn je zuvor. Man hatte sich gut mit den Gegebenheiten auf Reisen arrangiert und in wenigen Tagen war die Reise auch bereits zu Ende.
Laut unserem Guide, der selbst bereits lange davon sprach, wie glücklich wir uns schätzen konnten, so etwas miterleben zu dürfen, war unser Beiwohnen an der heutigen Zeremonie der Höhepunkt unserer Reise. Was mich angeht, sollte er Recht behalten, das wusste ich jedoch noch nicht zu Beginn der Zeremonie, als wir im Kreise saßen, der Platz erhellt durch einige Fackeln, welche rhythmisch sanft zu flackern schienen, obwohl man nie auch nur einen Hauch von Wind zu spüren vermochte. Alles, worauf sich das Licht der Fackeln legte, schien mit einem Mal lebendig und golden zu glühen.
Wir alle saßen auf dem Boden. An einer Seite des Kreises jedoch, vor der Haupthütte des Dorfes, saß jener Mann, den die Einheimischen als Wissenden bezeichneten, auf einem gewebten Stuhl. Lange saßen wir derart, ohne dass sich etwas regte. Majestätisch saß der Wissende mit aufrechter Haltung, und atmete langsam. Er trug über den Schultern einen Umhang aus schwerem Stoff in Grau und Weiß, um den Hals eine Kette dicker, schimmernder Perlen, sein Gesicht wurde verborgen durch eine rote Maske mit spitzer Nase und weit geöffneten Augen. Nach oben hin wuchs die Maske zu einer anmutigen Krone, welche das goldene Licht der Fackeln zu verschlingen schien.
Ich erschrak, als die Einheimischen wie mit einer Stimme einen Gesang tiefer Töne anstimmten. Der Wissende atmete. Dann, unmerklich, neigte er seinen Kopf, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Die starrenden Augen der Maske durchdrangen einen, wenn man ihren Blick kreuzte. Ich hatte die Augen geschlossen, um den fremden Tönen zu lauschen, einer Musik, die von einem Leben und einer Welt erzählte, die ich wie durch ein Fenster nur sehen, jedoch niemals betreten können würde.
Plötzlich Stille.
Ich sah langsam auf, blinzelte. Meine Augen mussten sich wieder an das seltsame Glühen gewöhnen, doch als ich wieder klar sehen konnte, erstarrte ich. Ich blickte in die Augen der Maske und der Wissende in die meinen. Mit einer langsamen Geste, lud er mich mit offener Hand ein, nach vorne zu treten. Fragend blickte ich zu meinen Mitreisenden. Ein Freund nickte.
Aufgeregt ging ich auf den ruhenden Wissenden zu, er gab mir zu verstehen, ich solle mich vor ihn setzen, dem Kreise zugewandt. Als ich nun saß, neigte er mit seiner Hand meinen Kopf nach hinten, tauchte einen Finger in eine zähe Flüssigkeit und berührte damit meine Stirn.
Langsam floss eine Träne über meine rechte Wange. Ich atmete. Der wissende richtete meinen Kopf wieder auf. Ich stand auf und nahm wieder Platz im Kreis.
Erneut begannen die Männer und Frauen die fremde und schöne Musik zu spielen. Wieder schloss ich meine Augen, um meine Ohren nicht abzulenken. Als ich das nächste Mal aufblickte war der Wissende verschwunden.
Lediglich Maske und Krone lagen ruhig, wo der Wissende saß, um dem nächsten Wissenden ihre Geheimnisse zu offenbaren.
Heidemarie Smolka
Sehr geehrte Damen und Herren,
freuen Sie sich! Es ist nicht nur eine Ehre, es ist auch eine Weltneuheit und Weltsensation, dass der PUSCHEL in dieser Ausstellung zu sehen ist. Freilich ist es nicht DER Puschel, sondern ein Replikat, aber erstmal konnte dank neuester hochtechnologischer Verfahren ein naturgetreuer Nachbau hergestellt werden. Selbstverständlich hat noch kein Lebewesen je den echten Puschel sehen können, da seine immens hohe Bewegungsgeschwindigkeit es unmöglich macht, ihn mit freiem Auge überhaupt wahrzunehmen. Es war eher ein Zufallsereignis – wie so oft in der Wissenschaft –, dass ein junger Vater sein Neugeborenes filmte, versehentlich mit hochauflösender Zeitlupe und in diesem Film das blitzartige Erscheinen von Puschel erstmals sichtbar wurde. Durch darauffolgende zahlreiche wissenschaftliche Aufnahmen bei Neugeborenen mit tausendfachen Zeitlupenaufnahmen konnte Puschel mit diesem 3D-Modell naturgetreu nachgebaut werden. Auf den Filmaufnahmen ist ersichtlich, dass er sich schnell drehend spiralförmig fortbewegt.
Wie Sie sicherlich wissen, wird jedem Neugeborenen in den ersten Minuten des frischen Lebens ein maßgeschneidertes Wort liebevoll eingepuschelt – das Seelenwort. Dieses Wort ist wie ein Seelenauftrag zu verstehen und wirkt ein Leben lang für dieses Menschlein. Ein Mensch ist dann in seiner Mitte, wenn es ihm gelingt, sein Leben nach diesem verborgenen und unbewussten Wort auszurichten.
Puschel ist derjenige, der dieses magische Wort nicht nur in das Menschlein einpuschelt, sondern der es auch auswählt. Er ist es, der entscheidet, welches Wort das passende ist – nämlich jenes, das hinreichend herausfordernd, aber bei seiner gelingenden Umsetzung auch beglückend ist. Leider ist in vielen Kulturen das Wissen um diese höhere Macht des Seelenwortes verloren gegangen, was zu Unzufriedenheiten, Melancholie, Gier, Hass und sogar Kriegen führen kann.
Wenn aber das Geschenk von Puschel erkannt und gelebt wird, dann kommt es zu Erfüllung und Weiterentwicklung für den betroffenen Menschen, aber auch für die gesamte Menschheit und das Universum. Somit wird der Beitrag erfüllt – wenn auch nur als Zahnrädchen –, es erwirkt Bewegung in die richtige Richtung.
Puschels Auftrag ist mit dem Hineinpuscheln des Seelenwortes nicht beendet, er beobachtet den Fortschritt der Umsetzung bei jedem einzelnen Menschen und gibt ab und an mit seinem wirbelnden Auftreten einen Schubs in die richtige Richtung. Der wird manchmal genutzt, leider auch oft gar nicht wahrgenommen oder ignoriert.
Seine Geduld ist nachvollziehbarerweise begrenzt. Wenn auf dem Erdenball zu wenige Menschen ihr Leben gemäß dem Seelenwort gestalten, so schickt Puschel heftige Krisen auf die Erde, um die Menschen wieder zur Besinnung zu bringen. So ist es auch 2020 geschehen. Nun bleibt zu hoffen, dass der Mensch durch das erzwungene Innehalten zur Einkehr kommt und das Wesentlichste wiedererkennen kann: Das Leben gemäß seinem Seelenwort auszurichten.
Kennen Sie Ihr Seelenwort?
Anonym
Es scheint unauffällig, aber doch Blick anziehend. Eine gute Deko in kahlen Räumen. Jeder bekommt davon andere Vorstellungen wo, wie und wann es passt. Es scheint geheimnisvoll, flauschig und originell. Man erkennt in dem Feder- oder Blütenkleid viele Formen, Gegenstände und Wesen. Man kann hier seine Fantasie austoben und sich die verrückteste Vergangenheit dieses Gegenstandes ausmalen.
Margit Berger
„Weiter, weiter“, treibe ich mich selber an, schüttle den Kopf so heftig ich nur kann, tanze und drehe mich in einem unglaublich schnellen Tempo. „Noch weiter, noch schneller!“ Mein Puls schlägt heftig, ich kann sogar das Klopfen meines Herzschlages fühlen. Auf meinem zusammengebundenen Haar steckt ein Objekt aus unzähligen Hühnerfedern in knalligem Orange.
„Hahahahahahaha!“, lauthals musste ich lachen, als ich mich damit zum ersten Mal im Spiegel betrachtet hatte. „Und das soll helfen?“, zweifelte ich die Absicht an. „Der Hühnertanz als Symbol der Fruchtbarkeit bestärkt und unterstützt ihren Kinderwunsch, ein uralter Ritus“, beteuerte die Energetikerin, die mir diesen Kopfschmuck anvertraute. „Es sind auch ein paar umgefärbte Federn eines alten Indianerhäuptlings, der auch Medizinmann war, eingearbeitet“, versicherte sie mir, als ich zuerst geringschätzig und ungläubig auf dieses Ding geklotzt hatte.
Ohnmächtig und hilflos sehe ich mich seit fünfzehn Jahren dem Wunsch meines Mannes nach einem Kind ausgeliefert. „Ein Sohn wäre die Krönung für mich, Liebste“, feuerte er mich immer wieder an, neue Wege neben den dutzenden Stellungen, die wir testeten, auszuprobieren.
Und irgendwie erfüllt mich auch ein naiver Kinderglaube, dass die Ahnen der indigenen Völker vielleicht doch ihre Netzwerke zum Universum und Einfluss auf meine Gebärfreudigkeit haben. Allein die grelle Farbe und dieser angeleitete Tanz, einem Derwisch ähnlich, motivierte mich dann doch, einen Versuch zu starten.
„Ich will ganz fest daran glauben!“, sage ich mir und beginne mich erneut zu schütteln und zu drehen ...
Schillerlocke Frittiert
POMMEL heißt er, der Gott der Quasten.
Sohn/Tochter von Zeus, so wie fast alle.
Zeus war wahrscheinlich nur ein präantiker Großbauer, der einem Unterjocher mal kräftig das Jochbein eindellte und so seine Großfamilie zum neuen Unterjocher machte, alter Neuadel quasi. Und plötzlich war er überall im präantiken Landstrich bekannt, genau wie seine Frau(en), Kinder, Knechte und Haustiere. Da muss er sich schon ganz geil gefühlt haben. 200 Jahre später war natürlich jedem egal, wessen Nachfahren einen gerade unterjochten, da konnte man auch die Geschichte vom Donnergott glauben. Und jetzt, ein paar Jahrtausende später, fragen wir uns, wie diese griechischen Bauerntrampeln nur so dumm sein konnten, glauben aber selbst an höhere technokratische, theistische, oder esoterische Kräfte.
Aber zurück zu POMMEL (nicht mit Bommel verwechseln, sonst droht spontaner Tod!). Der ist schon gewaltig abstrakt mit seinen vielen Quasten, ist höchstens einem Pompon oder einem Staubwedel zuzuordnen, aber in dem Fall hätte er ja keinen eigenen Platz in einem Kunstmuseum. Also muss da eine tiefere Bedeutung, eine höhere Macht dahinterstehen!
Also los, entmündige mich, POMMEL, ich vertraue darauf, dass meine Fehler und Sünden deinem großen Plan gerecht werden. Ich kaufe Buße und werde nie wieder dein Abbild zum Entstauben meines Stehregals verwenden! Versprochen. Dafür versprichst du mir einen quastig weichen Himmel.
Bis dann, dein Bronko
Sylvia Clasen
Wer bin ich? Du kennst mich nicht? Nein, ich bin kein Rock aus vielen Federn! Wieso meinst du, ich gehöre zu der Figur von Papageno? Ach so, ja, es stimmt, ich liebe auch die wunderschönen Kostüme der Zauberflöte. Du weißt nicht, wer ich bin? Ich bewege mich trotz meines Alters im Wind und werde bewundert und manchmal belächelt. Ich bin federleicht. Ich sitze weit oben, aber nicht auf Jedermanns Kopf. Ich bin immer noch schön!
Vero S.
Endlich habe ich mich aufgerafft und die Schachtel mit den Faschingskostümen heruntergehoben, um sie durchzusehen und auszumisten. Heuer wird es kein Faschingsfest geben – vielleicht ein bisschen stöbern, was sich da alles so findet.
Ich finde Hexenhüte, einen Wickelrock mit psychodelischem Muster, eine Hawaiikette, zwei zerfledderte Federboas, und da sitzt er. Er ist orange und sehr haarig oder wollig oder zottelig und fast so hoch wie die Kiste. Von welchem Faschingsfest stammt er? Ich kann mich an keines erinnern. Habe ich diesen Puschel geschenkt bekommen? Wann war das und von wem?
Ich hebe ihn aus der Kiste und er schaut mich an, obwohl Augen hat er gar keine, aber irgendwie kommt es mir so vor. Wieso bist du nicht verstaubt, wie die Federboas? Was machst du in meiner Kiste? Es kommt mir vor, als hätte ich ihn noch nie gesehen, ein ganz neuer und interessanter Anblick.
Was mache ich nun mit dir – weggeben wie fast alles andere? Nein, in den Müll kommst du nicht, aber wohin dann? Ich stelle dich mal auf den Sessel und dann werde ich schon sehen.
Im Laufe des Tages geht er – ich sage immer „er“, aber er war eben „er“ für mich – mir nicht mehr aus dem Kopf.
Immer wieder schaue ich auf den Sessel, wo er steht, oder soll ich sagen: thront. Es ist mir unmöglich, ihn zu verrücken, ihn in einen Sack zu packen oder ins Eck zu stellen.
Wer bist du und woher kommst du? Orange, kräftige Farbe – sind es doch vielleicht Federn – du bist ganz leicht – wie alt bist du – bist du vielleicht wertvoll – so ein Blödsinn.
Schaust du mich an – willst du mir was sagen?
Beim Zubettgehen steht er noch immer am Sessel, ich muss immer wieder hinschauen. Das Orange kommt mir hell vor, leuchtend, strahlend irgendwie positiv. Ich wache auf und sehe ihn an. Er hat eine unheimliche Anziehung auf mich und ich muss ihm einen Namen geben. Wie alt bin ich, dass ich einem seltsamen Stoffetwas einen Namen geben muss?
Die Tage vergehen und er steht am Sessel und sieht mich augenlos an. Er wartet und ich warte auch, dass mir ein Name für ihn einfällt oder eine Geschichte dazu oder seine Herkunft. In der Nacht leuchtet er mich an und es ist angenehm, er macht den Raum heller, strahlender, positiver. Eines ist mir klar, ich will ihn nicht missen, nicht hergeben, er soll bei mir bleiben.
Noch habe ich keinen Namen für ihn, aber ich weiß, dass mir einer einfallen wird – plötzlich wird er da sein und ich werde wissen, es ist der richtige.
Noch habe ich keinen geeigneten Platz für ihn gefunden, aber ich werde einen Platz finden und er wird dort bleiben.
Er ist zu mir gekommen und wird bei mir bleiben, bis ich ihn weitergeben kann – verschenken – oder er wird einfach nicht mehr da sein, wenn ich ihn nicht mehr brauche.
Bis dahin wird er mein oranger Begleiter sein und ich werde wissen, warum ich ihn gefunden habe.
Barbara Eisert
Federn… Die Leichtigkeit umhüllt mich und schützt mich vor Widrigkeiten, Kälte, vor neugierigen Blicken. Sie geben mir das Gefühl der Geborgenheit… Die Leichtigkeit, auch fliegen zu können. Die Welt von einer anderen Perspektive aus zu sehen. Mich vielleicht so zu sehen, wie andere mich sehen, fühlen und erleben, und doch wiederum geschützt zu sein in meinem Inneren. Jedes Ding hat zwei Seiten… Wer weiß, was auf der anderen Seite dieses Kokons zu sehen ist… Bin ich es, mit einer anderen Seite von mir? Eine, die nicht ängstlich ist, eine, die vielleicht eine Wissende ist oder sogar eine, die ich gar nicht kenne?
Karin Seidner
federnd
federleicht
leuchtendrot
zauberhaft
luftig wie zärtliche Worte
kraftvoll zugleich
ein Schweben im Raum
ein Flattern
ein Flirren
du willst hoch hinaus
und frei schweben
schaukeln
dich wiegen
wie eine Feder im Wind
Monika Volk
Ich sitze ganz klein inmitten dieser Installation. Sie wurde eigens für mich geschaffen beziehungsweise wurde sie gar nicht geschaffen, natürlich auch nicht eigens für mich. Sie war immer schon da, sie hat mich immer schon, von den ewigen Anfängen her, begleitet. Sie ist sozusagen meine zweite Haut, meine Tarnkappe, die ich immer, wenn ich sie brauche, hervorziehen kann oder verwenden kann. Doch von wo sollte ich sie denn hervorziehen, so groß wie sie ist, die Tarnkappe. Eigentlich ist es ja nicht im spezifischen Sinne eine Tarnkappe, nein, es ist eine Tarnkleidung, eine Ganzkörperverhüllung, ein riesiges Federkleid. Immer wenn ich mich verstecken will, drücke ich die beiden Daumen meiner Hände fest zusammen und die Tarnschutzhülle umgibt mich. Manchmal bleiben Leute verwundert stehen und rufen: „Schau, was ist denn das? Das ist ja wunderschön. So etwas gibt es eigentlich gar nicht.“ Die Menschen rätseln dann, was es ist, sie fotografieren mich, sie staunen, sie sammeln sich um mich und hören mich atmen und staunen noch mehr und mit einem Lächeln verlassen sie das Museum.
Anonym
In alten Zeiten gab es Ama. Sie hatte schönes, orange Haar, das ihre bis zum Boden fiel. Sie liebte Musik und Tanz. Sie hörte Musik, nicht nur, wenn ihr Volk musizierte, sondern in allem hörte sie Musik. In der Natur, im Wind, im Wasser, im Feuer, in den Lauten, die Tiere machten, in den Schritten anderer Lebewesen, selbst im Weg, den der Mond um die Erde nahm. Alles war ihr Musik. Und jede Bewegung, sei sie auch noch so klein, war ihr Tanz.
Sie fand jedoch niemanden, der sie verstand, und das machte sie traurig, deswegen fiel sie immer weiter in ihre Welt von Musik und Tanz und entfernte sich immer mehr von ihren Mitmenschen.
Als sie jedoch eines Tages in einem starken Sturm auf dem gefrorenen See tanzte und der Wind durch ihre Haare blies und ihr den Rhythmus vorgab kam eine Schar Vögel herbei und tanzten mit; auch die letzten Blätter der Bäume tanzten mit ihr und der Wind formte nun aus all dem Tanzenden eine Einheit, die auch Muster bildeten und es fielen Gebilde aus diesen Mustern aus Bewegung. Eine Einheit aus Federn, Blättern, Haaren in einem tiefen Orange.
Ama fiel aus Müdigkeit zu Boden, als sie wieder zu Kräften kam sammelte sie diese Gebilde auf und brachte sie zu ihrem Volk.
Als nun diese die Gebilde auf ihren Kopf setzten verfielen sie sofort in einen ekstatischen Tanz und spürten die Welt, in der Ama sich befand…
Von nun an feierten sie Feste in denen sie sich mit ihren Ahnen verbanden und so Himmel und Erde eins wurden. Sie heilten auch ihre Krankheiten im Tanz und jede Bewegung und jeder Laut, jeder Ton, den sie hörten oder sahen, war ihnen heilig.
Aus all dem entwickelten sie auch die Pantomime und Stücke für die Kinder, woraus sich später das Theater und der Film entwickelte. Sie malten und bildhauerten und lebten von nun an in dieser höheren Macht, die ihnen Musik und Tanz durch Ama näher gebracht hatte… Und die leuchtende, orange Kopfbedeckung erinnert die Menschen bis heute an diese höhere Macht, die in Musik und Tanz liegt.
Manfred Litscher
Es handelt sich scheinbar um ein Objekt. Ich sitze gerade vor dem Computer, habe nicht viel Zeit und doch saugt dieses Objekt ein wenig meiner Aufmerksamkeit von mir ab. Ich bleibe daran regelrecht haften. Was ist das? Es könnte eine Kopfbedeckung sein? Eine Kopfbedeckung überdeckt mit federähnlichem Material. Schützend? Oder ist es ein Schwamm, der nur darauf wartet, mich aufzusaugen? Wäre es kein Bild, so wäre ich schon der Versuchung erlegen, es zu berühren… Doch ein Museumsobjekt berühren? Mit Handschuhen kann ich es nicht wirklich spüren. Also sinnlos. In meinem Gedanken stelle ich es mir aber sehr weich und flexibel vor. Etwas, was sich vom Wind leicht bewegen lässt. Vielleicht lässt es sich auch vom Wind verwehen. Samen, die in die weite Welt hinausfliegen, um sich nach dem Sesshaftwerden mit anderen zu messen? Als Fotograf wäre ich schon um das Objekt herumgegangen, hätte es von oben und unten begutachtet, bei verschiedenen Tageszeiten betrachtet usw. Es gedrückt, gezogen und mit anderen Objekten in Zusammenhang gebracht. Jetzt, jetzt kann ich aber nur das Eine sehen. Das Eine! Wenn ich das gewählte Wort Gott nehme, dann sehe ich auch die vielen Facetten des Objektes. Ich weiß aber nicht, wie weit nach hinten es noch geht. Sehe ich das Objekt von oben oder unten? Kann „Gott“ sprechen? Vielleicht macht das Objekt auch einfach seine Augen auf und siehe da: Es ist ein Mensch oder ein Tier? Es erinnert mich auch an den Auswurf eines Vulkans. Eine pyroplastische Wolke nennt man das, glaube ich. Eine vernichtende Naturgewalt, aber auch unglaublich schön anzusehen. Diese Gewalten müssen sich im Laufe von Generationen auch tief in das Unterbewusste des Menschen eingegraben haben. Wenn ich so etwas sehe, reagiere ich instinktiv mit Ablehnung oder Anziehung. Ich weiß nicht warum, aber da ist ein Wissen, ein Wissen das da ist und so etwas wie eine Vorahnung. Vielleicht eine Verbindung zum Ursprung. Eine Verbindung zu Gott? Zur Natur? Oder einfach nur ein Anreiz, wieder einmal ins Museum zu gehen. Ja, es wäre wieder einmal schön, sein Inneres bereichern zu lassen, es wie eine Stimmgabel anzuschlagen, um sich zu fragen: „Warum spricht mich das so an?“ Mich bei den Museumsmitarbeitern zu bedanken und ihnen zu sagen: „Danke, dass ihr diese Dinge für uns bewahrt!“ Ende
Traude Veran
unter der glocke kein glas kein sturm keine pummerin eine glocke orange kein friseur keine pommeranze kein t-shirt eine glocke mit anhang kein igel kein clown kein darmkrebs ein objekt aus dem museum aus dem altersheim aus mir
Markus Wiesenhofer
Das unbekannte Objekt ist strahlend orange-gelb und durch die Stofffransen sehr anziehend. Rätselhaft und ohne Anhaltspunkt für eine historische, kulturelle, örtliche Einordnung ist es ein Objekt der Magie. Es könnte ein Glücksbringer sein, der sich den Betrachtern erst beim Begreifen erschließt und seine Wirkung dadurch entfaltet. Ein Pompon als kultischer Gegenstand mit positiver Ausstrahlung, der fröhlich stimmt beim Ansehen!
Anonym
Knauschig, wollig, obwohl faserig. Taktiles Bild in einer visuellen Welt. Robust, auch wenn es leicht wirkt. Und unaufregend, um zu heilen. Ein kleines Zauberwesen, wenn man sich darauf einlässt. Für Glauben ist kein Gesicht notwendig. Ich sehe das, was ich glauben möchte.
Silke Hansen
Sie lehnte am offenen Fenster und zog genüsslich an ihrer Zigarette. Wie langweilig, diese alten Männer, die einfach nicht akzeptieren wollten, dass nach Jahrhunderten der Männerherrschaft eine Frau zur obersten Priesterin geweiht worden war. Auch wenn sie dem Schicksal ein kleinwenig nachgeholfen hatte, aber das wussten ja nur sie und Esmeralda… Amüsiert vor sich hinlächelnd blies sie den Rauch aus dem Fenster und versenkte die Kippe zwischen den Lilien in der Blumenvase. Wie gut, dass die Probe immer auf das Gleiche hinauslief, die alten Herren wollten sie aufspießen, aufschlitzen, auf jeden Fall aber ein tiefes Loch in ihren Körper bohren. Beim ersten Mal wurde das Messer des heiligen Max benutzt, für die zweite Probe hatten sie das Schwert des großen Alexanders ausgewählt. Heute nun der dritte Versuch, sie nahm an, man würde es diesmal mit Pfeil und Bogen probieren. Sie trat auf den Balkon und schaute runter auf ihre Stadt, die größte und wohl auch die verkommenste Stadt der bekannten Welt. Aber damit war Schluss nach dieser dritten Probe! Sie hatte genug Geduld bewiesen mit den korrupten scheinheiligen Greisen, dümmlich und leicht zittrig reagiert auf ihre unverschämten Manipulationsversuche, und festgestellt, dass es doch Grenzen gab für ihre Schauspielkunst. In ein paar Stunden war der Spuk vorbei, alles war vorbereitet und kein Zufall konnte die Wiederauferstehung ihres Amtes zum Wohle aller verhindern. Gestern schon hatte sie sich mit Esmeralda für das rauchblaue Wolkenkleid entschieden. Sie würde großartig aussehen, an Hand- und Fußgelenken gefesselt, hoch oben zwischen den goldenen Pfählen, das Kleid fast durchsichtig im Gegenlicht und um sie wabernd wie ein Hauch, jeder Engel würde vor Neid erblassen bei ihrem Auftritt. Esmeralda klopfte, trat ein, das Kleid über dem Arm. Sie half ihr in das feste und leider auch kratzige Unterhemd, führte ihre Arme durch die Löcher der feinsten aller Kettenrüstungen und schnürte sie eng im Rücken zusammen. Der große graue Samtkragen und das samtig gepolsterte Leibchen ihres Wolkenkleides versteckten die Rüstung, der Rest war ein luftiger schwebender Hauch. Sie war bereit.
Beatrice Floh
Wenn ich diesen magischen Mantel trage, fühle ich mich von wunderbaren Mächten geborgen. Ich bin Teil vom Ganzen und mit allen Lebewesen verbunden. Ich vertraue mir und dem Leben.
Olga Wohlmuther
Du blaues
lichtdurchflutetes
wolkenähnliches
Gewebe du.
Warst du eine Wolke?
Warst du Nebel?
Graues Wasser?
Das nun in Form von
durchsichtigen
zarten
Schatten
vor mir steht?
Nun schlüpf ich
in dich.
In Gedanken
in blauen, in grauen
Gedanken.
Weil zu Grau
gewordenes
Blau
Schönheit ist.
Schönheit,
die sich langweilt!
Anna Stockhammer
Während sie die Treppe hinuntersteigt, berührt der Saum des Kleides den Boden. Ein leises Rascheln ertönt, als er Schritt für Schritt über die Stufen schleift und damit den Staub der vergangenen Jahrhunderte in sich aufnimmt und weiterträgt. Das fahle Licht der Kerzen wirft einen matten Schein auf die undurchdringbaren Farben des Kleides, so als wäre es nicht aus einem einfachen Samt genäht, sondern aus einem Stoff, der wie eine Barriere für die Augen kein einziges Leuchten durchlässt und den blassen Körper der Frau damit versteckt. Ein Hauch von Verfall hat sich mit der Sekunde über sie gelegt, in der sie in das Kleid gestiegen war und nun trennten sie nur noch ein paar Stufen von dem unausweichlichen Ende, sodass ihr Antlitz den Beobachtern die Kehlen zuschnürte. Sie hob ihre Arme, den Tüll, die zerschlissenen Fransen und das Rascheln wurde zu einer Kakophonie von unbeschreiblichen Klängen. So lieblich sie früher war, so grausam wirkte sie nun in diesem Kleid, dass ihren Körper einnahm und keine Gnade zeigte.
Andrea Wenig
Nicht nur kleidsam
Oma hat mir an ihrem Sterbebett das Versprechen abgenommen, dass ich das taubenblaue Kleid, aufbewahrt am Dachboden ihres Hauses, nicht wegwerfen darf, denn es ist magisch. Meine Oma war schon die längste Zeit verwirrt und erzählte oft von dem Kleid, das sie zum Fliegen brachte. Ich sprach nicht dagegen, denn sie hatte so viel Freude, wenn sie diese Geschichte erzählte.
Nach dem Begräbnis von Oma brauchte ich einige Tage, um in ihrem Haus all ihre Dinge durchzusehen, zu ordnen und zu guter Letzt zu entrümpeln. Über das Schicksal des Hauses habe ich noch nicht entschieden. Am Dachboden war ich nie, er war, seit ich mich erinnern kann, verschlossen.
Ein Schlüsselbund wurde mir vom Notar übergeben. Ein Messingschlüssel der einfachsten Art entsperrt die Tür des Dachbodens. Ich bin überrascht. Der Dachboden ist nicht, wie erwartet, vollgestopft mit Klumpert. Er ist hell und lichtdurchflutet, obwohl es draußen trüb und regnerisch ist. Der Holzfußboden ist staubig. Die Dachkonstruktion zeigt Spinnweben in kunstvollen Mustern. Es steht im Zentrum des Raumes ein Bild mit einem schwarzen Tuch verdeckt und eine Truhe in dunkelbraunem Holz mit offenem Vorhängeschloss. Ich öffne die Kiste vorsichtig. Es liegt ein Kleid darin, ein taubenblaues Kleid aus einem luftigen Stoff. Das Kleid hat seine Schönheit, Frische und Eleganz auf dem Weg bis in meine Hände verloren. War die Farbe einmal ein kräftiges Blau? War der Schnitt einmal modern? Ich nehme es heraus. Ich schüttle es ein wenig. Der Saum ist fransig. Ich finde den Gesamteindruck des Kleides unordentlich. Ich drehe und wende es, um alle Seiten des Kleides zu sehen. Ja, unordentlich ist der richtige Ausdruck für diese einstige Robe. Es muss Größe 34 sein. Welcher normalen Frau passt ein solch zartes Kleidchen. Meiner Oma? Ich weiß es nicht. Ich bin so neugierig, dass ich eine Anprobe wage. Mutig oder dumm von mir, denn ich habe Größe 40. Mein Tun ist eine sinnentfremdete Aktion. Hose und Shirt liegen rasch am Boden und das Kleid streife ich über meinen Körper. Das Unmögliche ist möglich. Das Kleid streichelt meine Haut, es ist eine Freude, es zu spüren. „Was ist das für ein Stoff? Stretch? Das gab es damals nicht“, spreche ich zum Kleid. „Na, super, jetzt spreche ich schon mit einem Kleid. Mich hat man auch nicht mehr lange“, spreche ich zu mir, was jetzt auch nicht besser ist.
In der Kiste liegt eine Ledermappe, in ihr eine Zeichnung des Kleides, ein Schnittmuster und ein Brief. Meine Oma hat mir einmal als Kind gezeigt, wie man Kleider zeichnet und wie Schnitte entstehen, wie Zuschneiden funktioniert und Nähen. Alles vergessen und doch wieder da. Sie hat sich gewünscht, dass ich Schneiderin werde. Ich war damals der Meinung, eine Schneiderin verdient nicht genug, wird nicht ausreichend wertgeschätzt und so weiter. „Was bist du geworden? Eine Beamtin, die auch nicht wertgeschätzt wird, die eine der langweiligsten Arbeiten macht, die es gibt, und das noch viele Jahre bis zur Pensionierung, dafür unkündbar. Bravo das hast du gut gemacht“, plappere ich, während ich den Brief öffne.
Meine Liebe!
Niemand außer mir weiß, dass du nicht meine Enkelin bist. Ich habe dich und deine Mutter aufgenommen. Leider ist sie sehr früh an Krebs gestorben. Sie war für mich wie eine Tochter und du bist für mich meine Enkelin. Das Kleid hat deine Mutter getragen, als sie mich am Markt gefragt hat, ob ich ihr helfen könnte, sie ist in Not und flüchtet vor ihrem gewalttätigen Mann. Ich habe sie aufgenommen. Sie hat mir von den übernatürlichen Kräften dieses Kleides erzählt. Ich durfte es auch einmal überziehen. Ich bin mit diesem Kleid geflogen, weil fliegen ein großer Wunsch von mir war. Leider darf ich nicht mehr erleben, was dein größter Wunsch ist.
Ziehe dir das Kleid über, schaue in den Spiegel, du wirst sehen und erkennen.
Deine Oma Margarete
Sie war nicht meine richtige Oma. Das trübt meine Liebe zu ihr nicht. Das verhängte Bild ist ein Spiegel. Soll ich mutig sein? Soll ich mich in diesem Kleid ansehen? Soll ich mir das antun? Ich ziehe an dem schwarzen Stoff, er gleitet langsam, wie eine Feder zu Boden. Ich sehe mich. Ich bin schön. Ich sehe entschlossen aus. Der Raum, in dem ich im Spiegelbild stehe, ist nicht der Raum, in dem ich bin. Neugierig gehe ich meinem Ich entgegen. Ich versuche, mir über die Schulter zu sehen. Ich sehe eine Werkstatt. Frauen arbeiten. Sie nähen Kleider. Ein freundliches Gesicht sieht mir über meine Schulter und sagt: „Na, trägst du das Zauberkleid. Was wirst du damit tun?“ Ich schrecke mich. Ich zucke zusammen. Ich sehe über meine Schulter. Da ist nichts. Es ist viel Platz am Dachboden. Er ist, wie schon erwähnt, sonnenlichtdurchflutet, was nicht sein kann, denn es regnet. Ich höre die Tropfen wie ein Trommeln am Dach. Angst überkommt mich und fährt in meine Glieder. Ich hebe den schwarzen Stoff auf und will den Spiegel wieder abdecken. Der Stoff will nicht mehr hängen bleiben und gleitet immer wieder zu Boden. Die Näherinnen sehen mich verwundert an.
Es läutet an der Tür. „Auch das noch“, denke ich mir. Ich stolpere hinunter zur Eingangstür. Ich öffne sie und vor mir steht die Frau, die gerade über meine Schulter gesehen hat, vor ihr ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt. „Ja, bitte“, sage ich mit aufgerissenen Augen. „Please help me. I come from Afghanistan. Was brought a long way here by bad persons and they let us here alone. I don’t know where we are and where we can go.“ Ich trage noch immer dieses taubenblaue Kleid. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es sind fremde Menschen, wer weiß, was das für welche sind. Das kleine Mädchen sagt: „You are so beautiful.“ Ja, wer hört das nicht gerne. Ich trete zur Seite und lasse die beiden klitschnassen Flüchtlinge ein.
Nach einer Tasse heißem Kräutertee und einem einfachen Gespräch in holprigem Englisch ist das kleine Mädchen eingeschlafen. Die Frau erzählt, dass sie ausgebildete Schneidermeisterin ist. In den folgenden Stunden des Gespräches habe ich mir ausgemalt, den Dachboden zu einer Schneiderwerkstatt zu machen, diese Frau mit ihrem Kind aufzunehmen für Kost und Logis. Wir drei Frauen könnten es schaffen, unser Leben neu zu starten.
Ich komme mit einer neuen Tasse Tee aus der Küche. Die junge Frau ist, wie ihre Tochter, am Sofa eingeschlafen. Ich gehe auch zu Bett. Ich schlafe ein mit guten Gedanken an eine Veränderung. Das Kleid liegt neben mir auf einem Sessel. Ich träume von schönen Kleidern, glücklichen Kundinnen und einer neuen Freundschaft bis ans Ende meiner Tage.
Am frühen Morgen öffne ich meine Augen. Das Kleid ist weg. Ich springe auf. Alles nur geträumt? Ich laufe auf den Dachboden. In der Mitte des Raumes stehen die Truhe und der schwarz verhängte Spiegel. Die Kiste trägt ein Vorhängeschloss. Sie ist versperrt. Keiner der Schlüssel von Oma passt zu diesem Schloss. Das ist ein Zeichen, das nicht überstrapaziert werden will.
Ich höre Schritte und das kleine Mädchen von gestern sagt fröhlich: „Good morning. I have made breakfast. What I want to tell you, my name is Mag. And you? Who are you?“
Renate Dum-Lebersorger
Geschichte eines Kleides
Entstanden aus Stoffen verschiedener Materialien entstand ich vor etwa 100 Jahren, also im frühen 20. Jahrhundert, in Wien.
Dass ich so werden würde, wie ich mich jetzt vor Ihnen präsentiere, konnte ich am Anfang meiner Entstehung noch nicht erahnen. Nach meiner Fertigstellung durch flinke Hände begabter Näherinnen waren alle mit dem Ergebnis sehr zufrieden, ich persönlich auch. Natürlich ist man selbst geneigt immer noch hier oder dort einen Mangel zu entdecken, aber insgesamt fand ich mein Aussehen durchaus anmutig.
Der Preis, den man für mich festsetzte ließ schon erahnen, dass ich in meiner jugendlichen Frische und Schönheit in einem vornehmen Haus landen würde. Und so geschah es dann auch: Eine Herzogin war in den Modesalon Ma Mignonne gekommen, um sich ein Kleid nach den allerneuesten Modetrends anfertigen zu lassen. Sie war gerade dabei der Saloninhaberin ihre Vorstellungen zu unterbreiten, als ihr Blick zufällig auf mich fiel, die ich darauf wartete, von der Dekorateurin einen wirkungsvollen Platz in der Auslage zugewiesen zu bekommen. Bevor sie weitersprach, rief sie aus: „Dieses da nehme ich!“ In meinem jugendlichen Überschwang zeigte ich mich von meiner besten Seite, schließlich hatte ich einen wichtigen Sieg davongetragen über ich weiß nicht wie viele andere Modelle, die man der edlen Dame von Stand wohl empfohlen hätte. Fein verpackt und voller Stolz verließ ich alsbaldigst das Geschäft. Bereits in der darauffolgenden Woche erfuhr ich durch ein Gespräch von zwei Hausmädchen, dass ich demnächst „mein Debüt“ bei einem Nachmittagsempfang am kaiserlichen Hof feiern sollte. Ich hatte vor, meine Trägerin zur strahlenden Königin unter den Eingeladenen zu machen. Ich war von so viel Energie und Tatkraft durchdrungen, dass ich Kleiderständer ausreißen hätte können. Bald musste ich jedoch leider erkennen, dass meine Bemühungen durch die arrogante Natur und das herablassende Verhalten der Herzogin zunichtegemacht wurden. Bekannt für ihre provokant verletzenden Äußerungen wandten sich ihre Gesprächspartner in der Öffentlichkeit schnell von ihr ab und schenkten ihr und ihren schönen Kleidern kaum mehr Aufmerksamkeit. Und auch an jenem Nachmittag verhielt es sich nicht anders. Voller Missmut über die ihr zuteil gewordene Missachtung warf sie mich am Ende des Tages in eine Ecke ihres Ankleideraumes: Sie hatte jegliches Interesse an mir verloren. Schließlich schenkte sie mich einem der Stubenmädchen, welches mich unverzüglich an den Modesalon, aus dem ich stammte, verkaufte, um sich ein paar Kronen zu verdienen. So war ich also zurückgekehrt an den Ursprung meiner Entstehung, aber dieses Mal fühlte ich mich ausgelaugt, um Jahre gealtert, schlapp. Trotz des Versuches der Salonleiterin, mir durch eine veränderte Kragenform neuen Schwung zu verleihen, konnte ich mich des herabwürdigenden Gefühls, nur noch ein Modell aus zweiter Hand zu sein, nicht erwehren. Wie unvorstellbar groß war da meine Freude, als eine Fürstin den Modesalon betrat und Gefallen an mir bekundete. „Jetzt wird alles wieder gut“, sagte ich mir und ließ hoffnungsvoll die entscheidende Anprobe über mich ergehen. „Perfekt“, hörte ich die an mir interessierte Person sagen. „Packen Sie mir das schöne Stück bitte gleich ein“. Ich bin nicht sicher, ob es ihr nicht aufgefallen oder sogar angenehm war, dass ich als bereits getragenes Modell zu einem stark vergünstigten Preis zu haben war. Jedenfalls dauerte es nach dem Kauf nicht lange bis zu meinem nächsten Auftritt: Man half der Dame nach dem Schminken, mich anzuziehen und einen passenden Schmuck für den vorgesehenen Konzertabend auszuwählen. Ich spürte, dass die Fürstin sich in mir wohl fühlte und war daher sicher, dass an jenem Abend nichts schiefgehen konnte. Es sollte aber anders kommen: In der Pause traf man sich zu einem Glas Wein im Pausenfoyer des Konzerthauses. Zwei Frauen, von denen die Fürstin stets gemeint hatte, dass sie ihre Freundinnen seien, ließen sie wissen, dass ihre Abendgarderobe nicht mehr zeitgemäß sei, schon gar nicht für eine Dame ihres Standes. „Interessantes Modell! Unsere Gouvernante hat ein sehr ähnliches Kleid vor einem Jahr getragen“, musste sie über sich ergehen lassen. Ja, auf diese Weise landete ich schließlich auf einem Flohmarkt. Ich konnte Gedanken nicht verdrängen wie: „Sollte das mein Leben gewesen sein? War das schon alles? Gibt es in dieser Welt nur ichbezogene, herzlose Menschen?“ Vor lauter Enttäuschung vergaß ich auch, dass ich nun allmählich in die Jahre gekommen war und die Hoffnung, erfüllte Tage zu erleben, immer geringer wurde. Auf dem Flohmarkt glich ein Tag dem anderen – wie ein langer, zäher Strom bewegte sich die Zeit. Aber dann – es war an einem Sonntag, ich erinnere mich noch genau daran – kam ein kleines Mädchen mit seiner Mutter auf mich zu, stellte sich vor mich hin und rief: „Mama, schau doch, dieses Kleid würde dir sicher gut passen! Bitte, kauf es dir doch!“ Zunächst ein wenig zögerlich, dann aber neugierig geworden, probierte die Mutter, die eigentlich die Tochter einer alten Grafenfamilie war, die Robe und fühlte sich sehr wohl darin. Das Töchterchen tanzte vor Freude um sie herum. Sollte dieser kleine Engel doch noch eine Wende in meinem tristen Kleiderleben herbeiführen? Das Schönste aber muss ich zum Abschluss noch erzählen: Die Gräfin, obwohl verarmt, war stets karitativ tätig, vor allem versuchte sie durch das Sammeln von Geld Kindern in Not zu helfen. Einmal im Jahr, meist um Weihnachten herum, überbrachte sie selbst die gesammelten Beträge einem Waisenheim. In diesem Jahr entschied sie sich, mich als Kleidung bei ihrem Wohltätigkeitsbesuch zu tragen. Als sie im Kreise der Kinder erschien, trat ein kleiner Bub an sie heran und fragte mit leuchtenden Augen: „Kommst du vom Himmel? Bist du das Christkind? Du bist so schön!“ Solche Bewunderung und Wertschätzung, wie der kleine Bub sie mit seinen einfachen Worten ausgedrückt hatte, erlebte ich immer wieder in ähnlicher Weise noch etliche Jahre lang, solange ich die Wohltäterin bei ihren Aktivitäten begleiten durfte, bevor ich schließlich meine Wohnstätte im Museum fand.
Nina Novotny
Fließend leicht schmiegt sich der Stoff an meinen Körper. Ich schließe meine Augen und beginne mich zu drehen. Meine Zehenspitzen wirbeln dabei den Staub des Dachbodens auf, der seinen eigenen Tanz im einfallenden Sonnenlicht vollführt. Der Tüll schwingt im Gleichklang mit meinen Drehungen. Das Kleid verschmilzt im gemeinsamen Rhythmus mit mir. Anmutige Bewegungen von den Zehen- bis zu den Fingerspitzen leiten mich. Die Energie des Kleides führt mich behutsam. Ich lasse los und gebe mich vertrauensvoll dem Tanz des Kleides hin.
Das leise Knarren des Dachbodens entschwindet sowie die staubgetränkte Luft und die wärmenden Sonnenstrahlen. Aus der Ferne nehme ich leise Musik wahr. Der Rhythmus des Kleides intensiviert sich. Der Takt der anmutigen Bewegungen erhöht sich. Geborgen umschließt mich das Kleid, während die Musik lauter wird.
Der Stoff des Kleides lässt mich innehalten und ich öffne behutsam meine Augen. Anscheinend unbemerkt stehe ich zwischen Tanzpaaren, die sich der Musik der rauschenden Ballnacht hingeben. Mächtige Kronleuchter zieren den gesamten Saal. Ein Gefühl von Unbehagen macht sich in mir breit, welches dem in die Jahre gekommenen, verstaubten Kleid geschuldet ist. Als ich an mir hinabblicke, traue ich dem was ich sehe kaum. Das Kleid erstrahlt im neusten Glanz und steht den Kronleuchtern um nichts nach.
Mein schweifender Blick lässt mich in den Augen eines Mannes innehalten. Der durchdringende Blick des Mannes lässt mich nicht mehr los. Zweifellos sucht sein Blick den meinen. In dem Moment, in dem ich den Blick erwidere, spüre ich die Energie des Kleides. Behutsam führt mich das Kleid erneut. Diesmal sind es keine einem Tanz anmutenden Bewegungen, sondern ich setze einen Fuß vor den anderen, da sich das Kleid, ebenso wie ich von meinem Beobachter angezogen fühlt. Sein vertrauter Blick lässt mich meine Schritte beschleunigen. Ich nehme nur noch ihn und das Kleid wahr, während sich unsere physische Distanz verringert.
Der Moment, in dem wir voreinander stehen lässt die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft verschmelzen. Ich kann dem Drang nicht widerstehen, meine Augen zu schließen, überwältigt durch das Aufheben von Raum und Zeit. Die Energie des Kleides wird präsenter, wobei ich mich zu drehen beginne.
Alles um mich verschwimmt. Ich atme die staubige Luft des Dachbodens ein. Es ist still. Ich spüre den Stoff des Kleides ohne Energie und verblasst an mir. Während ich das Kleid vorsichtig zurück in die kunstvoll verzierte Holzkiste lege, bleiben meine Gedanken bei dem Mann mit dem vertrauten Blick.
Ich komme zu dir zurück, dringt es aus mir heraus. Ein Lichtstrahl durchströmt die geschlossene Holzkiste und lässt den Deckel aufspringen. Der Glanz des Kleides ist ebenso, wie die magische Anziehungskraft zurückgekehrt.
Andrea Benning
Frau Holle
Es ist die Zeit zwischen den Jahren, wo alles neu im Wandel ist.
Das Rad steht still, die Perchten jagen, Frau Holle unser Schicksal misst.
Was war nun gut, was ist gescheitert, was fließt in die Bewertung ein?
Selbstloses Tun statt Ego Kreisen – es soll Balance aus beidem sein.
Schnell wird geurteilt, die Durchsetzung die wäre schlecht! Doch rückt’s die andre Seite weise mit Kompromiss wieder zurecht.
Die Goldene Mitte will’s erreichen, dort wo das göttliche Licht entspringt.
Und das wohl gar in allen Zeichen, damit’s auf höhere Frequenz uns schwingt.
Elke Heselschwerdt
Zufall ist Glück oder Göttersache
Ich bin ein duftiges, leichtes Seidenkleid. Ich würde zu deinen schwarzen, schulterlangen, lockigen Haaren gut passen, aber so etwas Schickes passt nicht zu deiner Arbeit, du kleidest dich alltagstauglich. Du trägst eine schwarze, weite Hose und ein schwarzes Oberteil, das lose über deine Hüften hängt. Es ist eine preiswerte Ausstattung. Du bist Lehrerin in einer Werkstatt für Schwerbehinderte und du kannst vom Gesicht Emotionen ablesen. So war es auch in deiner Freizeit im April 2005, als du in den Zug stiegst und dich auf deinen reservierten Platz 31 im Abteil setzen wolltest. Der Platz war besetzt. Dort saß eine – geschätzt – Fünfzigjährige. Du batst sie, deinen Platz frei zu machen. Unwillig und verwundert fragte sie, warum es unbedingt dieser eine Fensterplatz sein müsse, da ja alle anderen Plätze im Abteil unbesetzt wären. Diesen Platz reservierst du immer, das ist so. Warum – das bleibt dein Geheimnis. Die Frau fragt, wohin du fährst, du antwortest einsilbig: nach Leipzig. Sie fährt von Berlin nach Salzburg, erzählt sie. Neben ihr liegt ein roter Tulpenstrauß mit mindestens dreißig Doppelblüten. Der sei von dem Mann, mit dem sie heute Schluss gemacht hätte. Sie fährt mit mächtigem Liebeskummer, sagt sie und fängt an zu weinen. Du lässt sie heulen und reden. Sie spricht mit gebrochener Stimme und schnieft immer wieder in ihr Taschentuch. Dieser Mann ist Biologe, Vegetarier, für den würde sie grünen Hafer pflanzen, sagt sie, aber er hat selten Zeit für sie und engagiert sich nicht wie ein anderer Mann, den sie noch nie getroffen hat. Aber dieser andere sendet viele SMS, sogar Postbriefe und telefoniert abendlich drei Stunden mit ihr und will sie bald sehen. Aber welcher ist der Richtige? Kann man sich nur gefühlsmäßig entscheiden? Sie zeigt dir zwei Fotos. Du erkennst wegen deiner Berufsausbildung charakterliche Züge in Gesichtsausdrücken und Körperhaltungen. Zu dem Foto des ihr persönlich noch Unbekannten sagst du: Der wird gut zu ihnen sein. Dann schluchzt die Frau und fragt dich, ob du eine Wahrsagerin bist. Du schweigst. Die Frau will dir später vom Fortgang ihres Schicksals berichten. Du gibst ihr eine Telefonnummer, die nicht existiert. War diese Begegnung Zufall? Hatten die Götter ihre Hand im Spiel und wollten der Frau helfen und du bist ein Engel? Die Frau erreichte dich am Telefon nie, aber du weißt: Sie hat den Unbekannten nach drei Wochen Kennlernzeit geheiratet und ist glücklich geworden. Du hast mit deiner Aussage über ihre Zukunft mitgemischt. Tragen Engel eventuell auch schwarz? Du kleiderlose Schwarzträgerin, kannst du sagen, ob Engel und Götter Zufälle arrangieren? Inzwischen ahnt das die Frau, die von Berlin nach Salzburg im Zug fuhr. Und ich verrate: Bei ihrer Hochzeit mit dem engagierten Mann habe ich gern als Hochzeitskleid fungiert. Seit damals hänge ich als Erzählkostüm im Museum. Weißt du das auch, du rätselhafte Zugmitfahrerin? Meinst du, wer an höhere Mächte glaubt, hat gute Begleitung?
Jenny Döring
Am Boden kniend halte ich meinen ganz persönlichen Schatz in der Hand. Ich bin fünf oder sechs. Meine Lieblingspuppe ist eine Prinzessin im himmelblauen Kleid und wirkt auf mich magisch. Wenn ich sie in die Hand nehme, legt sich ein Zauberschalter um und ich steige hinab in meine innere Märchenwelt. Dort ist die Welt heil, die kosmischen Kräfte im Gleichgewicht, das Gute gewinnt und Mutter Erde trägt uns alle heil durch unsere Abenteuer. Sobald ich meine Puppe in der Hand halte, spüre ich vor allem eins: Urvertrauen. Ein Gefühl, das in meinem Alltag rar ist, aber doch immer in Griffnähe. Es ist das himmelblaue Prinzessinnenkleid mit seinem bauschigen Tüllrock, das mich als Anker in mein Erwachsenensein begleitet.
Die Welt ist aus den Fugen geraten. Die Hässlichkeit füllt zunehmend unsere Straßen. Unsere Kinder werden mit Grässlichkeiten konfrontiert, denen wir Erwachsene ohnmächtig gegenüberstehen. Ich sehne mich nach Urvertrauen, der Gewissheit, beschützt zu sein, und dem Glauben daran, dass das Gute über das Böse siegen wird.
Und da ist es wieder. Das blaue Prinzessinnenkleid. Es ist mein Objekt in der Online Schreibwerkstatt. Wir drücken mit Worten aus, was uns in der Welt da draußen sprachlos macht. Der letzte Satz und Freudetränen steigen in mir hoch. Das blaue Kleid. Alles wird gut.
Victoria Hanser
Heute ist es soweit. Der Tag der Zeremonie ist gekommen. Ich weiß, dass ich eins werde mit den Göttern, um mein Schicksal zu erfüllen und mein Volk zu retten. Es ist kein einfacher Schritt, aber ich weiß, dass ich ihn gehen muss. Es ist mein Schicksal und das Schicksal der Menschen, die ich liebe und geschworen habe zu beschützen. Der Tag beginnt schön. Es ist sonnig und ungewöhnlich warm für den Frühling, so als ob die Natur wissen würde, was heute bevorsteht. Ich wurde schon früh geweckt, die Sonne hat ihr Schlafgemacht noch nicht verlassen, um aufzugehen und uns mit ihrem goldenen Licht zu erfreuen und das Leben selbst auszustrahlen. Ich konnte sowieso nicht mehr schlafen, ich war sehr aufgeregt und meine Träume waren wirr und unbestimmt. Meine Seele und mein Geist haben sich schon darauf vorbereitet was heute kommen mag. Ich wurde ins Bad geführt und einer rituellen Waschung unterzogen. Ganz langsam und vorsichtig wuschen mich die Bediensteten und achteten darauf, alles genau und in der richtigen Reihenfolge zu machen. Alles war vorherbestimmt, vieles vor langer Zeit geplant. Niemand durfte einen Fehler machen oder wir würden uns alle den Zorn der Götter zuziehen. Nach der Waschung mit den besonderen Ölen – ich konnte nur den Lavendelduft klar identifizieren, vielleicht sollte er mich auch einfach nur beruhigen – wurde ich auch noch mit einer speziellen Creme eingecremt, die einen wunderschönen Schimmer auf meiner Haut hinterließ. Ich fühlte mich wie neugeboren und war mehr als bereit den restlichen Weg zu gehen. Die Creme erfordert einen langen Herstellungsprozess, dies ist das einzige was ich weiß. Nur die ältesten Priester sind in den genauen Prozess eingeweiht und wissen, welche Bestandteile sich genau darin befinden. Nach dem Prozess der Reinigung kam meine Mutter in meine Gemächer, gefolgt von einer weiteren Schar Diener und Helfer. Sie wirkte traurig und glücklich zugleich, ich war froh, sie nochmal sehen zu können und ein Strahlen auf ihrem Gesicht zu sehen, was eindeutig Stolz ausdrückte, auch sie wusste um die Wichtigkeit meiner Aufgabe und deren Bedeutung. Wir alle waren uns dessen bewusst. Ganz vorsichtig und behutsam wurde ich in die rituellen Gewänder gekleidet. Ich benötigte die Hilfe der Diener, um alle Lagen zu sortieren und alles richtig zu schließen und anzukleiden. Das Kleid selbst war wunderschön, fließend und leicht. Die Farbe war wie der Tau selbst, das Material, vornehmlich Seide, war weich und schmiegte sich um meinen Körper, hüllte ihn liebevoll ein. Ich fühlte mich bereits wie eine Göttin und war gespannt und aufgeregt vor dem weiteren Teil meiner Reise. Meine Mutter küsste mich noch einmal behutsam auf die Stirn und verließ mich dann. Ich hatte noch etwa eine halbe Stunde Zeit um zu beten und mein Schicksal endgültig anzunehmen und wurde dafür in unseren Tempel geleitet. Hier wurde ich allein zurückgelassen und konnte mich ganz hingeben und mich in Trance versetzen. Mein Opfer ist wichtig und ich bin bereit. Die Priester, allen voran der Oberpriester, kommen noch einmal, um mich zu sehen und mit mir zu sprechen bevor es in den Raum des Einklangs ging. Dort stand ein großer blank polierter schwarzer Stein, so stark und fest, als würde er dort in Ewigkeit stehen. Die Priester salbten mich noch einmal, ich roch überall Weihrauch und war bereit wie nie. Jetzt war der Moment gekommen und ich war bereit ihn anzunehmen und mein Schicksal willkommen zu heißen. Ich umrundete den Stein, betrachtete ihn von allen Seiten und stellte mich dann aufrecht davor, die Hände erhoben. Ein Leuchten ging von dem Stein aus, eigentümlich aber irgendwie auch heimelig. Ich wurde angebunden mit den starken Seilen aus dem Schilf unseres Mutterflusses und wartete ruhig und voller Freude auf den Moment. Den Moment in dem ich mein Volk, alle Menschen die ich liebte, für weitere 100 Jahre oder sogar mehr zu retten. Ich legte mein Leben in die Hände der Götter.
R. Kemal Kulaksiz
Einst waltete Unglück auf der Erde, ein Unglück ohnegleichen. Kein heiteres Lachen vermochte die Tristesse zu erhellen. Niemand wusste sich zu helfen und so ging das Leben fort und verhedderte sich immer mehr im Elend. Sie glaubten Gott habe sich von ihnen abgewandt.
Doch eines Tages riss die Wolkenbank auf und noch bevor die wonnig-goldenen Strahlen der Sonne die Erde trafen, stob eine Engelschar auseinander. Sie sammelten den Schaum auf und den Nebel über den Wellen der sieben Weltmeeren und fingen die Winde der Gebirge ein. Aus diesen woben sie mich, ein Kleid, das ihrem Besitzer zum Glück verhelfen sollte. Und so kam nach und nach wieder Glück unter die Menschen, und Kinder lernten wieder das Lachen.
Kathrin Schwediauer
Die Göttlichkeit als irdisches Abbild des Schöpfers ist der Mensch. Er gilt als vollkommenes Wesen, makellos im Ursprung, ist die pure Liebe. Dies anzuerkennen und dank dessen achtsam auf Erden zu wirken basiert auf Bewusstsein und Größe. Das steht im Gegensatz zu Selbstgefälligkeit und Macht.
Dieses Wissen – dem liegt ein Urvertrauen zugrunde – ist gegenwärtig nicht zu sehr verbreitet, trotz dem es jeglicher Konfession entkoppelt ist. Nicht eine Ehrfurcht einflößende Allmacht steht im Zentrum, schon eher eine „über dem Irdischen“ wirkende Kraft; das Wort sagt es. Diese Kraft stellt sich nicht über den Menschen. Sie dient ihm, sofern er sie erkennt, anerkennt und im Vertrauen darauf handelt. Als Gedanke der universellen Verbindung entsteht ein Gefühl des „Alle-Eins-Sein“.
In unseren Zeiten versucht sich der Mensch als Allmächtiger und tendiert eher zum „Allein-Sein“. Er rückt sein Ich ins Zentrum, das Herz schwindet einer Leere, die Liebe einer Entfremdung. Einer Entfremdung des Menschen zu sich selbst und gegenüber dem Überirdischen. Ohnmacht ergreift ihn. Und so wendet er sich bitterlich flehend doch an das Höhere Mächtige, um sich seines Ursprungs zurückzubesinnen und dorthin zurückzukehren.
Irene Hetzenauer
Ich schaue dich an und sehe dich nicht. Meine Augen sind zugeklebt von deiner Asche und meine Lippen rußig. Ich habe versucht, an deinem Feuer zu lecken. Mir die Zunge verbrannt, den Mund geschwärzt. In meinen Nasenlöchern steht jetzt der Rauch.
Du brennst, weil du sie gekostet hast. Die verbotene Frucht. Ob ich dabei war, weiß ich nicht mehr. Ob ich dich gesehen habe. Vorher. Du brennst, obwohl du nichts getan hast. Weil ich es so gewollt habe.
Seit du mich angezogen hast, kann ich nicht mehr nackt sein vor dir. Ich strecke meine Arme aus nach dir. Dann weiß ich es wieder. Da, wo ich früher Arme hatte, Hände, um zu greifen, zu begreifen, ist nichts mehr. Jemand hat sie mir abgehackt. Ein oder eine Jemand. Kein Jemand.
Meine Ärmel sind an meinen Seiten angenäht, ich kann nicht heraus aus dieser Rüstung, die so fest sitzt, die jetzt meine ist. Mein Kopf bedeckt, als würde gleich der Regen kommen, der dich auslöschen kann. Er kommt nicht. Er darf nicht kommen.
In meiner Brust stecken Nägel. Sie sind in mich gekommen, als du explodiert bist. Das erste Mal. Sie glühen, wenn du einen Schritt auf mich zu machst.
Ich habe eine weiße und eine rote Seite, keine schwarze, keine graue. Weiß bin ich noch unverwundbar, rot bin ich schon verbrannt.
In meiner Mitte gähnt Es. Hat gebuddelt, gebuddelt, gebuddelt für einen Weg in die Welt. Eine Leere. Ein Loch. Das Loch winkt, hat den Wunsch, gestopft zu werden, damit es schlafen kann. Endlich.
Dort, wo das Loch ist, kannst du durch mich hindurchgehen. Und musst dich nicht mal sehen lassen
Anonym
Ich bin im Congo als (N) Mkisi geboren, hergestellt mit einem Spiegel im Bauch, der Strahlen spiegelt und widerspiegelt, also ein Energiefeld erzeugt. Ich habe viele Geschwister, die ähnlich wie ich im Glauben ihrer Besitzerinnen und Besitzer die Rolle eines Transformators spielen. Ich reflektiere und transformiere nicht nur meine*n Träger*in und Besitzer*in, nein auch Beobachtende und an mich Herantretende und deren Energien werden durch mich reflektiert und in unsichtbarer Kommunikation transformiert. Ich trage und verwandle duale Welten, Perspektiven und Werte: Aus Rot und Weiß, aus hell und dunkel, aus Gut und Böse kann das Licht jeweils in den Schatten treten und oder aus dem Schatten ein Licht hervortreten. So agiere ich als Objekt im Energiefeld der Kommunikation zwischen Menschen und höheren Mächten.
Sylvia Petter
Versteckte Frucht
Aicha brachte die Kiste nach Hause. Der Mann sagte, es sei alles, was sie brauche, um einen kleinen PC zu bauen. Sie ging in ihr Zimmer und schob die Kleidung in ihrem Schrank zur Seite, wobei drei Regale leer blieben. Im obersten Regal platzierte sie einen Monitor im mittleren Regal, sie platzierte eine Tastatur und eine Maus. Es fehlte etwas. Wo war das Gehirn? Sie hatte die gleiche Frage im Kurs gestellt. Es ist kein Gehirn, hatte der Mann gesagt. Was ist es? Raspberry. Eine Himbeere? Aber das ist eine Frucht. Ja. Ah, sagte sie. Eine kleine Frucht. Ein Gehirn. Wenn du willst, sagte er.
Mama, ich kann meine Himbeere nicht finden. Schau in meinen Schrank, sagte ihre Mutter. Dein Schrank? Dort ist es kühler. Ich habe die ganze Schachtel zum reifen gegeben. Ich brauche nur eins, sagte Aicha. Meins. Ihre Mutter schnaufte und öffnete den Schrank. Sie sind jetzt sowieso reif. Mama, was ist das für eine Kiste? Ich weiß nicht, sagte ihre Mutter. Dein Vater muss es dort hingelegt haben. Was steht auf der Schachtel? Raspberry-Pi. Mama, es ist mein Gehirn! Aicha umarmte ihre Mutter und rannte mit der Kiste in ihr Zimmer. Sie packte es aus, befestigte den Monitor und die Tastatur. Nun zum Starten.
Erhem. Ihr Vater stand in der Tür. Er lächelte. Also hast du es gefunden? Sagte er. Aicha rannte, um ihn zu umarmen. Vielen Dank. Es kam heute. Ich musste bar bezahlen. 50 Euro. Jetzt kannst du loslegen, sagte er. Aicha grinste. Sie hatte ihren eigenen Mini-Computer, ihre Himbeere. Etwas so Kleines würde sie ganz weit bringen.
Nina Urlep
Was ist von dir übrig – und was fehlt? Hat der Lauf der Welt dich entzweit oder brichst du nur auf, um einen neuen Ort mit deiner Energie zu befruchten? Die Leere, die du hinterlässt, wird die Natur mit Leben füllen und deine Saat streut aus in alle Weiten. Damit du nicht den Halt verlierst auf deiner Reise, bleibe ich hier und erinnere an deine Existenz in dieser Wirklichkeit. Wir sind verbunden in unendlicher Entfernung, halte dich an mir fest und fliege weit weg.
Barbara Klaus
Die Weltenseele in meinem Spiegel voll Demut geschaut.
Ich sehe mich klar im Spiegel; mit allen Spaltungen, den unzähligen Polaritäten und der Vereinigung im Zentrum direkt in meinen Augen falle ich in die Seele.
Die Wahrheit macht nackt.
Todes- und Lebenssehnsucht!
Da ist ein Teil in mir, der sterben will. Den ganz rein lassen, da bei mir halten. Der Teil, der mich töten will, ist programmiert von jenen, die mich missbraucht haben.
Direkt daneben ist das Opferselbst, das so sehr gerettet werden will. Die Rettungslosigkeit bejahen, die Unerfüllbarkeit der Sehnsucht im Körper spüren und den unermesslichen Schmerz völlig zulassen, wie er in Wellen hochsteigt.
Wenn ich Angst habe und damit wirklich leben kann, wenn ich dem Tod in jedem Moment zustimme, bemerke ich, dass ich viel mehr unter Menschen zum Dasein eingeladen bin, wenn der Tod mit eingeladen ist.
Ich bin bereit zum höchsten Raum zu gehen, der zugleich der tiefste ist.
Es ist ein Geschenk, beten zu dürfen.
Liebesfähigkeit, die auf meiner Unwürdigkeit gegründet ist, erfahre ich als Gnade. Gnade bedeutet, dass es nicht von meiner Würdigkeit abhängt. Ich fühle meine Unwürdigkeit und die Entspannung in dieses Unwürdigsein hinein.
Ich kann nichts tun, die Suche nach einem Ausweg endet, auch kein anderer kann etwas tun. Nichts kann für oder gegen Gnade getan werden. Es wird etwas von mir genommen, wann und wie lange ist ungewiss, nur, dass es geschehen ist und geschehen wird.
Glaube bleibt über, wenn die Schleier fallen.
Existenz als ein Gebet zu Ehren Gottes.
Anonym
Oh weh, schon wieder ein Nagel! Wie viele werden noch in meinen kleinen Körper geschlagen? Viele Aggressionen bekomme ich ab, stellvertretend für andere. Ohnmächtig muss ich alle Gewalt erdulden. Ich sehe aus wie ein kriegerischer Gott, aber mein aggressives Aussehen mit der Kriegsbemalung täuscht, ich bin handlungsunfähig, bin das Opfer, kann nur erdulden – und es wird erwartet, die Aggressionen weiterzugeben.
Ohnmächtig bin ich? Aber nein, Macht habe ich, große Macht, indem ich die von mir erwartete Weiterleitung der Aggression verweigere. In meinem Nichthandeln schaffe ich Platz für Frieden! Frieden! Frieden! Frieden überall!!!
Franziska Arnhold
Ich schreibe noch einen Text, weil ich es kann. Eigentlich ist die Frist abgelaufen, aber es gelingt mir, durch diese sich schließende Tür zu kommen. Vielleicht ist es auch Zufall oder einfach eine Verlängerung (das passiert ja gerne im Museumsbereich), aber heute Morgen fühlt es sich so an wie Fügung und ich fühle mich glücklich, zumindest im ersten Durchlauf. Denn mein erster Text war verschwunden und ich muss ihn noch mal schreiben. Zwei Stunden und einige Wutanfälle sowie Bastelüberreaktionen mit geschmolzenem Plastik und Moltofill liegen dazwischen.
Die Figur war mir gleich von Anfang an sympathisch. Die baumelnden Hoden. Solche habe ich auch schon gehäkelt, aber einen Ganzkörperanzug aus Kartoffelsäcken habe ich nicht zustande bekommen. Ich kann mich mit ihr identifizieren. Die Scheuerpads an den Innenseiten der Ellbogen stehen für mein Verhältnis zu Ordnung und Sauberkeit. Die Kette um die Knie erinnert mich daran, dass ich mir oft selber im Weg stehe. Die großen Ohren an meine Schwerhörigkeit und meine noch schwerhörigere Mutter und wo das enden wird. Die dunkle Maske an meinen Anflug von Angst und Unsicherheit und sei es nachts im dunklen Flur der Wohnung, wenn ich schlaflos durch die Zimmer wandere. Ich kann sie mir rational nicht erklären.
Die Maske erinnert aber auch an eine Totenmaske und lässt mich an die denken, die von uns gegangen sind. Aktuell an den guten Freund eines Freundes, der sich vor einer Woche das Leben genommen hat. Erhängt im Wald und vorher die Polizei angerufen, die ihn finden sollte, aus Rücksichtnahme, damit es Fremde sind und nicht die eigene Freundin, die ihn suchen geht. Peter hatte viel mit Dingen zu tun, er war Sammler, wie ich. Er hatte einen Blick für die schönen Dinge und konnte in einem Haufen Müll, den 100 vor ihm schon durchgeschaut hatten, genau das eine Stück finden, das alle fragen lässt, wo er das denn herhätte. Das verbindet uns. Seine Wohnung war ein Gesamtkunstwerk. Selbst die Händler aus Berlin rufen an und wollen wissen, was mit seinen Fotos und Bildern geworden ist und dass das hoffentlich noch alles da sei. Der gemeinsame Freund musste erst mal die Familie bremsen nicht gleich Tabula rasa zu machen und den Entrümpler zu bestellen. Ich war nie drin. Habe ihn bei dem gemeinsamen Freund getroffen und als ich von seinem Tod erfahren habe als erstes überlegt, was wir als letztes zusammen gegessen haben. War es seine auf dem Balkon gegrillte Dorade oder die Tortilla mit viel Öl, die einfach vorbildlich geworden ist. Sein Rezept für die leckerste Currywurstsauce hat er mitgenommen. Er hat mir eine Jesus Krippenfigur geschenkt, auf Stroh gebettet, leicht und aus Holz, sehr schön gearbeitet und viel schöner als die Gipskrippenfiguren, die ich schon hatte und mal im Set bei Ebay gekauft. So konnte ich dieses Jahr zwei Jesusse in meine Krippenlandschaft einbauen und hatte neben Jesus im Stall einen weltlichen Jesus in der Stadt mit Andeutungen auf Coronaschließungen und die amerikanische Wahl. Peter lebte in einer Parallelwelt mit bösen Dämonen, die er nicht losgeworden ist. Hilfe annehmen wollte er nicht oder sie war keine für ihn. So ist er dann gegangen trotz Freunden und Freundin. Die haben ihn nicht halten können. Schon im Kindergarten ist er wohl am ersten Tag aus dem Fenster gesprungen und nach Hause gegangen und kam nie wieder, erzählte ein alter Freund.
Fast das Gegenteil von Peter habe ich gestern erlebt. Die alte und demente Frau, die ich besucht habe und die sich so gefreut hat, mich mal wieder zu sehen. Erst nannte sie mich Schwester um sich dann selber zu korrigieren und festzustellen: „Nein, Schwester sind Sie gar nicht, Sie sind die Chefin, stimmt’s?“ Sie wird dieses Jahr 90 (ich habe jetzt nachgeschaut). Wir saßen in ihrer aufgeräumten Küche und auf dem Tisch standen zwei Tomaten und ein Ei in einer kleinen Schale und ich dachte, es sei wohl hartgekocht und sagte „nicht schlecht“ und sie fragte, was daran schlecht sei. Nichts, korrigierte ich, im Gegenteil. Das war wohl ein Maskenmissverständnis. Ja, sie werde gut versorgt, sagte sie, und die würden ihr Essen bringen. Vielleicht sei auch welches in dem Topf auf dem Herd. Der war aber leer und gefrühstückt hatte sie noch nicht. Es war 11:30 Uhr und vielleicht würden die bald kommen. Diese Frau ist vergleichsweise arm und doch so zufrieden. Sie zeigte mir den Getränkevorrat in der Ecke und hob eine Flasche Hibiskuseistee mit Erdbeer-Kiwi-Geschmack hoch, mit der sie nichts anzufangen wusste. An die anderen Flaschen kam sie nicht ran, als sie sich bückte um mit dem Buttermesser die Plastikumschweißung zu öffnen. Ich schon. Es war Orangennektar und den wollte sie lieber trinken. Ich machte die Flasche auf und holte ein Glas aus dem Schrank, nur um wenig später zu entdecken, dass bei ihrem Stuhl auf dem Boden schon eine geöffnete Flasche stand. Dann wollte sie das Ei schälen und mit Salz und ohne Brot essen. Ich suche Salz und finde nach einiger Zeit auch welches in einem der Schränke und fülle es nach, aber da hat sie schon mit dem Pfeffer vorliebgenommen und ich mache ihr dann noch ein Salamibrot und schneide eine Tomate dazu auf. Das Brot müsse ich in kleinere Stücke schneiden, leitet sie mich an. Das sei schwer, ganz alleine und ohne Familie, aber sie habe die beste Mutti der Welt gehabt. Davon hat sie mir bestimmt schon erzählt. Ja, ich weiß. Die war erste Geigerin und sie dann wieder: Und zu Weihnachten hat sie immer gespielt und sie Kinder haben dazu Weihnachtslieder gesungen. Ich spreche sie auf den Fleck auf ihrem Unterarm an, der dunkel ist und mir etwas Sorgen macht. Da habe sie sich wohl gestoßen, aber es tue nicht weh. Sie drückt drauf, um das zu testen. Ja, sie sei am allerliebsten in ihrer Wohnung. Da habe sie die Stube mit dem Fernseher (und da müssten wir mal testen, ob der funktioniert, bevor ich gehe). Sie soll froh sein und dankbar, dass sie mit dieser guten Gesundheit gesegnet ist und körperlich noch so fit ist und zu Hause wohnen kann und nicht bettlägerig im Altersheim ist. Für manche sei das vielleicht richtig, weil die Gesellschaft haben wollen, aber sie hatte sich da nicht wohl gefühlt, erzähle ich ihr. Sie wollte da nur weg und wieder nach Hause. Ja, sie sei eine alte Frau und habe nicht mehr so viel vom Leben zu erwarten, aber sterben wolle sie ja nun auch noch nicht, sondern in die Kneipe nebenan gehen und ein Bierchen trinken. Wenn das wieder geht, ergänze ich. Apropos, sie würde bald Post bekommen, wegen der Impfung und dann müssten wir einen Termin machen im Impfzentrum. Das kann sie gar nicht, sagt sie. Das mache ich dann. Der Pflegedienst sagt Bescheid und ich hole sie ab und wir machen einen schönen Ausflug. Sie glaubt, sie sei schon geimpft worden, vor ein paar Wochen, gleich hier auf dem Platz. Da ist jetzt ein russischer Supermarkt bei dem ich immer Sauerrahm kaufe, so auch heute und früher war da ein Edeka. Da hat sie gearbeitet und der Laden hat ihrem Bruder gehört. Ja und dahinter sind Schrebergärten, erzähle ich. Da bin ich heute durchgefahren. Die seien wohl ganz in Ordnung vermutet sie und ich sage: Total gepflegt und man kann sich daran erfreuen, wie schön geschnitten und aufgeräumt das alles ist und die anderen machen die Arbeit. Das sei ganz praktisch. Da muss sie lachen. Ich gehe wieder, ohne den Fernseher zu kontrollieren. Nur ihren Schlüssel, den sie sucht und in der Tasche hatte, der muss wieder an das Schlüsselbrett neben der Tür. Sie bedankt sich noch mal für meine Zeit und sagt das ich bald mal wieder vorbeikommen soll und meinen Mann grüßen, nach dem sie sich erkundigt hatte und ich denke, ja, das sollte ich. Von dieser Frau kann ich so viel lernen. Zufriedenheit, Bescheidenheit, gute Laune.
Spätestens zum Impfausflug.
Anonym
Staunen über die Welt
Freude über das Dasein
Beklemmung über das Dasein
Weiß man doch nie, was auf einen zukommt
Bis man am Ende ist oder bis man am Anfang ist
Übung ist das Wichtigste, um zum Anfang zu kommen
Fragen kommen auf einen zu, man sollte davon nie satt werden
Bereit sein für Erfahrungen
Sich der Ungewissheit der Welt stellen
Gibt es denn eine Wahl?
Amelie Schauerhammer
Der Mensch ist ein obskures Ding. Man wird in diese Welt hineingeboren. Ohne die Fähigkeit zu sprechen, ohne eine reale Sinneswahrnehmung, ohne moralische und gesellschaftliche Zwänge, ohne Pflichten, ohne Persönlichkeit. All das entwickelt sich im Laufe der Zeit. Das nennt man Erziehung. Die Eltern sind für die eigene Entwicklung bis zu einem bestimmten Grad verantwortlich. Sie prägen moralische Werte, Sprache, Persönlichkeit, soziale Verhaltensweisen, Verständnis von Gut und Böse, Wahrnehmungen, z.B. die von Gerechtigkeit oder die der Sinne. Unsere Familie definiert zunächst die eigene Stellung in der Gesellschaft: Armut oder Reichtum, Bildungsbürgertum oder soziale Unterschicht, Religionszugehörigkeiten, emotionale Intelligenz und so weiter. Nicht jeder genießt Privilegien. Wie man so schön sagt: „Das Leben ist ungerecht!“ und nicht jedem ist stets das Gute vergönnt. Wobei die Definition von Gut und Schlecht auch subjektiv ist und wieder mit der Erziehung bzw. Herkunft zusammenhängt. Jede Gesellschaft unterliegt selbstverständlich bestimmten Regeln, Gesetzen, Strukturen. Sonst würde das blanke Chaos und reinste Anarchie herrschen. Im Umkehrschluss heißt das auch: Nicht jeder kommt aus der ungerechten sozialen Schlinge heraus und ist in der Lage, sich zu einem rechten Bürger weiterzuentwickeln. Manche Menschen handeln falsch, begehen Fehler unterschiedlichen Ausmaßes. Fehler, die durch die vorherrschende Justizgewalt geahndet werden. Bestrafung. Für die Sünden. Damit man daraus lerne. Schmerz und Leid, aus dem gute Taten resultieren sollen. Man sieht, wie jemand gefoltert wird. Er hängt mit den Armen am Rücken an einem Seil in der Luft. Möglicherweise ein Keller. Irgendwas vor 300 oder 400 Jahren vielleicht. Einfache Lehmwände umfassen den großen, nassen Raum. Kerzenschein dringt durch eine Wandöffnung aus einem anderen Zimmer hinein. Durch zwei gegenüberliegende große Fenster scheint das Nachtlicht der dahinterliegenden Straße herein. Viele andere Menschen kauern auf dem blanken Boden, gekleidet in dreckige Fetzen. Wartend, dass sie die nächsten sein werden, damit all das schnell ein Ende hat. Betend, dass Sie die Folter und das Leid überstehen mögen und diesen elenden Ort verlassen können. Reuend für die Taten, die sie begangen haben, aber wohl in der Gewissheit, dass sie zu spät eintrat. Vielleicht haben einige unter ihnen die Tortur auch bereits hinter sich. Sie haben gebüßt! Der Folterer steht aufrecht im Raum. Gut gekleidet, so, als führe er diese Aufgabe gern aus. Als sei er Gesetz und Ordnung höchst persönlich. Er geht im Anschluss nach Hause mit einem Lächeln auf den Lippen. Schlussendlich hat er wohlmöglich aber nur Glück gehabt und genoss Privilegien, deren Genuss alle anderen im Raum sich nur erträumen können. Zwei Seiten, zwei Gesellschaftsschichten, beides Menschen. Und doch so uneins.
Eva Gsteu-Kirschbaum
Eine Darstellung aus lang vergangenen Tagen: Menschen sind der Willkür, Brutalität und dem Hohn ihrer Mitmenschen hilf-, recht-, würde- und machtlos ausgeliefert. Sind solche Bilder wirklich nicht mehr aktuell?
Helgard Fröhlich
Ich lese Alessandro Magnasco und den Titel, Gerichtszene. Gerichtsszene? Ungläubig lese ich ein zweites Mal Gerichtszene. Wohl kaum, oder doch? Damals eben, vielleicht am Anfang des 18. Jahrhunderts. Besser würde der Untertitel Inquisition oder Verhöre in einem Gefängnis passen.
Denn, nein, ganz entschieden nein, dies ist kein Gericht im heutigen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Der Untertitel muss klar und deutlich heißen: Inquisition oder Verhöre in einem Gefängnis, so jedenfalls mein erster Reflex. Ich atme tief. Und denke entsprechend langsam. Wie oft kann man am Fortschritt der Menschheit zweifeln, oder besser: verzweifeln. Die Nachrichten und das Leben selbst scheinen Beispiele zu liefern, die an der Natur des Menschen als vernunftbegabtes, gar geselliges Wesen zweifeln lassen. Aber dieses Bild lässt mich denken, es gibt doch Hoffnung. Wir sind vorangekommen in der Geschichte. Verbot von Folter und Anspruch auf einen fairen Prozess, das ist heute Allgemeingut humanistischer Gesellschaften.
Ich suche im Bild einen Ausdruck von Anteilnahme des Künstlers. Wenigstens ein kleines Zeichen. Auf den ersten Blick vergeblich. Warum? War es zu gefährlich für den Maler? Oder wollte er „nur“ dokumentieren und sich nicht positionieren gegen Gewalt und Willkürherrschaft der Mächtigen im damaligen Italien (wahrscheinlich Mailand)? Oder waren die Gefangenen in seinen Augen die zu Recht zu Bestrafenden?
Zentral im Bild der Verhörende und ein Schreiber. Hoch über dem Tisch dieser Diensttuenden schwebt in kläglicher Haltung an verdrehten Armen der Gefolterte. Was mag er getan haben? Was wirft man ihm vor? Was mögen auch die anderen Gefangenen verbrochen haben? Sie, die sie in Eisen geschmiedet an der Wand den Blick nach unten gesenkt haben. Auf ihren Gesichtern kann man wohl keine Anteilnahme erwarten. Sie werden mitleiden, aber müssen zum Selbstschutz wenigstens den Blick nach unten und nicht auf das Opfer richten. Auch an den Rändern des Bildes weitere Vernehmungsszenen, weitere Schreiber, die die erpressten Geständnisse notieren.
Ich suche weiter. Ein hoher Raum, das Tageslicht fällt durch die Fenster hinein und beleuchtet die mir unheimlich anmutende Szene. Die Gefangenen sind ausgeliefert und wahrscheinlich ohne jede Hoffnung. Nochmals, auch beim zweiten Blick kann ich kein Hoffnungszeichen, keine Anteilnahme des Malers erkennen. Haben die armen Seelen Rettung und Trost in ihrem Glauben gefunden? Ich will es für sie hoffen.
Und ich atme nochmals durch. Vor Tagen habe ich den Film Der Feind, nach einer Geschichte von Ferdinand von Schirach gesehen. Die zentrale Frage war: Darf man zur Rettung eines unschuldig entführten und gefangengehaltenen Kindes dem wahrscheinlichen Täter unter Androhung oder tatsächlicher Folter den Ort des Gefangenhaltens abpressen? Zwei Sichten werden vorgestellt. Der Polizeikommissar hat durch Waterboarding die Adresse erpresst und den Täter zum Geständnis gezwungen. Und der Rechtsanwalt verteidigt weniger den Täter als viel mehr den Rechtsstaat. Der Film wirkte – obwohl an eine wahre Begebenheit angelehnt – konstruiert. Er vermittelte kaum Einsichten in die tieferen Beweggründe der Handelnden. Ich fand ihn daher etwas oberflächlich. Eigentlich hatte mich nur die letztendlich unumstrittene Erkenntnis von der Rechtsstaatlichkeit als hohem und zu schützendem Gut überzeugt.
Vielleicht kommt der Film mir deswegen beim Betrachten des Bildes von Magnasco nun nochmals in den Sinn. Es sind keine höheren Mächte, die uns Hoffnung geben. In den letzten Jahrhunderten hat es ein Teil der Gesellschaften geschafft, Recht und Gesetz gegen Willkür zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist wahrlich noch keine Gerechtigkeit, die unser Leben bestimmt, aber es gibt wenigstens Rechtsstaatlichkeit. „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen“, soll Bärbel Bohley, eine der führenden Bürgerrechtlerinnen 1989 gesagt haben. Viele von uns DDR-Bürgern jedenfalls haben den Satz damals so verstanden und haben trotz aller Enttäuschung über die Wiedervereinigung gelernt, diese Errungenschaft wertzuschätzen. Es hat uns den Blick nicht verstellt dafür, dass es in vielen Teilen dieser Welt noch Folter, Terror und Krieg gibt. Wie der Film zeigen wollte, gibt es jedoch auch in unseren Demokratien nichts Selbstverständliches, für immer Gegebenes. Es muss wohl ewig auch verteidigt und erstritten werden. Der Staatsrechtler Böckenförde schrieb daher schon 1964:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Für diesen Satz wurde Böckenförde auch „Einstein des Staatsrechts“ 1 genannt.
Wohin hat mich das Bild von Magnasco geführt? Ich atme nochmals tief durch. Ins Jahr 2021. Zu unserem Heute und Jetzt. Und zu einem Thema, für das wir uns – unabgelenkt oder vielleicht gerade wegen der gegenwärtigen Corona-Krise – engagieren müssen. Wohl verstehend, dass uns keine höheren Mächte helfen können, menschliche Errungenschaften zu verteidigen. Ist der Sprung von Magnasco und seiner „Gerichtsszene“ aus dem beginnenden 18. Jahrhundert zu den guten Vorsätzen von Heute zu groß? Für mich am heutigen Tag jedenfalls nicht. Und ich denke nochmals, es gibt immer auch Hoffnung. Wenn wir denn verstehen: „Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“. 2
1 Zit. nach https://verfassungsblog.de/das-boeckenfoerde-diktum/ (Zugriff 13.1.2021)
2 Textzeile der Internationale von Eugène Pottiers. Sein Text entstand unmittelbar nach der gewaltsamen Niederschlagung der Pariser Kommune im Mai 1871.
Brigitte Guschlbauer
Lassen Sie mich Ihnen erklären: Ich wollte nicht, dass es so kommt, das müssen Sie mir glauben. Ich bin neu hier, mein Meister hat mich bisher nur zu Hause und nur für seine persönlichen Notizen benutzt. Das war immer sehr schön. Er hatte viel zu erzählen. Wie schön war das, wenn er mich in sein Tintenfass tunkte und die strahlend blaue Tinte mit mir auf das Papier floss. Er schrieb über die Reisen, die er gemacht hatte oder über Fragen, die ihn beschäftigten. Er hatte immer die beste Tinte und das feinste Papier, und mit mir gemeinsam erlebte er seine schönen Reisen noch einmal.
Und dann das. Da nimmt er mich plötzlich mit hierher. Ich meine, sehen Sie sich doch einmal um! Grauenvoll. Vorbei ist es mit den italienischen Zitronenbäumen. Und mit der schönen Tinte und dem guten Papier auch. Er zwingt mich, Urteile zu schreiben, grässliche Urteile. Da ist von Vierteilen die Rede, von Pech und Schwefel und von Ketten.
Ja, genau, die Ketten – wenden Sie sich doch an die! Ich habe mit all dem überhaupt nichts zu tun. Mein Meister zwingt mich zu dieser Arbeit hier. Man könnte sagen, er hat mich fest im Griff, aber ich tue schließlich niemandem weh. Fragen Sie doch die Kette, was sie hier so macht. Ich habe gesehen, wie sie in Blut badet und mit Wonne Knochen knacken lässt. Wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen das ganz genau auf. Haben Sie vielleicht einen Bogen Papier für mich?
Janine Oszwald
Jeden Tag stehe ich im Dienst und dennoch werde ich täglich undankbar auf den harten Steinboden geworfen, der mich jedes Mal ein wenig aufwetzt. Ich ziehe und halte schwere Lasten mit dem Gefühl, dass es mich gleich zerreißt. Oft verbringe ich ganze Tage alleine im Dunkeln am eiskalten Boden. Nur manchmal finde ich ein wenig Trost, wenn ich um den warmen Hals einer dieser traurigen Menschen liege. Doch die wiederhallenden Schreie und die zitternden Körper erschüttern mich bis ins Mark. Auch die Wärme, die ihr Körper spendet, ist von kurzer Dauer. Manchmal verbringen wir ganze Wochen gemeinsam, doch meistens wird ihre Haut nach spätestens einigen Tagen eiskalt. Für die Reichen bin ich ein geliebtes, fein geformtes Schmuckstück, für die Hoffnungslosen und Verzweifelten bin ich der eiserne, erbarmungslose Wärter. Ob sie wissen, dass ich sie gar nicht festhalten möchte? Sicher nicht. Sie wissen nicht einmal, welch Glück sie haben, ein zeitlich begrenztes Leid zu haben.
Nin Somnia
Es ist spitz und düster um uns herum. Wir kämpfen um die Hoffnung und versuchen jedes Übel von uns zu halten und dies sogar mit allen Mitteln.
Dieser arme Mann, der hoch oben dort hängt und für etwas bestraft wird, von dem wir uns nicht erklären können, wie es geschehen ist… Wichtig allein ist, dass wir einfach nur etwas tun oder etwa nicht?
Um uns herum sehen wir mehrere arme Seelen die ihre Buße, unserer Meinung nach, erhalten. Sie blicken auf den Boden und doch sehen sie alles um sich herum… Die Schmerzen sind wohl besser zu ertragen, wenn wir uns gegenseitig nicht begegnen, beim Leiden.
Ein paar wenige sind privilegiert, Entscheidungen treffen zu dürfen, die über die Würde und den Glauben anderer hinweg gehen… So was soll ein einziger Mensch gegen höhere Gewalt tun? Gegen die Meinung anderer?
Nun… Ich glaube, der beste Weg, um sich selbst nah und treu bleiben zu können, ist, den Sinn in etwas Größerem, Höherem zu sehen und fest an mehr als nur die momentane Realität zu glauben.
An höhere Mächte… Vielleicht an solche Mächte, die einen dann sogar befreien können.
cogito ergo sum
Schein oder Sein
Glanz und Gloria
Kalt oder warm
Hart oder weich
Freud oder Leid
Lug oder Trug
Freund oder Feind
Ich oder Du
Alles nur Ein-(e Frage der) Bildung ?
Ypsilon
Das Gesicht
Warum hat es kein Gesicht. Es soll mir doch die Richtung zeigen, in die ich gehen soll. Es wird doch jemanden geben, der weiß, wohin man gehen soll in dieser Welt. Nur der Glaube ist, was bleibt, wenn sonst nichts mehr übrig zu sein scheint. Aber wie soll es – dieses Ding – nur die Richtung kennen, wenn es doch nichts sehen kann, so ohne Gesicht. Ohne Augen.
Fühlen – ist es da, um mich zu lehren, wie man fühlt? Ist es letzten Endes doch nur unser Gefühl, das uns leitet? Wie kann ich lernen, mehr zu fühlen? Reicht mir der Glaube daran? Oder ist es dieses Ding – ich nenne es ab jetzt Talisman – das mir die Überzeugung gibt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.
Ich denke das ist es – ein Talisman – eine Erinnerung – daran zu denken, mehr zu fühlen, mehr Gefühl zu zeigen. In einer immer kälter, gefühlloser werdenden Welt.
Mitgefühl – Wir-Gefühl.
Theresa Zischkin
Ghasel über das Schicksal
Deine Existenz erschuf ich in diesem Raum, oh Schicksal
Doch ruhte ich nie unter des Erden Baum, oh Schicksal
Denn ich schritt durch die Welt in meiner Rüstung, ohne Rast
Das Weiß der Wolken meines Kleides Saum, oh Schicksal
Einzig des Welten Wissen mein Begleiter, stumm und doch laut
Mich konnte man nicht halten im Zaum, oh Schicksal
Als ich kreierte die tosenden Gewässer mit irdischem Leben
Und tanzende Fische auf der Wellen Schaum, oh Schicksal
Den Atem der Natur gerade eingehaucht – doch plötzlich:
Aufstiebende Vögel verloren Federn und Flaum, oh Schicksal
Flohen sie vor dem schimmernden Glanz der metallenen Hülle?
Das Schwert der Gerechtigkeit leuchtet gefährlich, oh Schicksal
Doch du flüstertest „Oxala“ und ich lächelte voll Freude
Denn dieser Ort war nun kein Traum mehr, oh Schicksal.
AUS DEM MUSEUMSSHOP
Buch: Höhere Mächte – Von Menschen, Göttern und Naturgewalten
Die Publikation versammelt eine Auswahl der vom Publikum eingereichten Glücksbringer und Werkstatttexte, stellt ihnen drei ausführliche Gespräche zu den Themen Partizipation, Anthropozän und Staatsmacht gegenüber und illustriert diese großzügig mit den Objekten der Ausstellung.
KUNST- & KULTURVERMITTLUNG
Führungen
Begleiten Sie unsere Kunstvermittler*innen auf einen Rundgang durch die Sonderausstellung „Höhere Mächte“.
Die Führungen finden am Mittwoch um 11 Uhr, am Freitag um 16 Uhr sowie Samstag und Sonntag um 15 Uhr vor Ort statt.
Preis: € 6
Begrenzte Teilnehmer*innenzahl
Bitte beachten Sie: zur Führungsteilnahme ist ein gültiger Zutrittstest und eine FFP2-Maske erforderlich.
Donnerstagabend im Museum
So breit gefächert wie die Ausstellung selbst, sind auch die Themen unserer Online-Donnerstagabende, die wir den „Höheren Mächten“ widmen.
Dabei kommen Kurator*innen des Theatermuseums, des Weltmuseums Wien, sowie des Kunsthistorischen Museums ebenso zu Wort, wie anerkannte Spezialist*innen aus Wissenschaft und Religion.
8.7. | Gespräch mit Epigraphiker und Historiker Hans Taeuber (tbd) |
15.7. | Amazonas trifft auf Phrygien: Rubens‘ Gewitterlandschaft und der Sturmdämon der Ticuna, Gespräch mit den Kuratorinnen Claudia Augustat & Gerlinde Gruber |
22.7. | Hugo von Hofmannsthal, Alfred Roller, Richard Strauss Kurator Rudi Risatti im Gespräch mit den Autorinnen Christiane Mühlegger-Henhapel & Ursula Renner |
29.7. | Figurentheater von Richard Teschner, Vortrag von Kuratorin Angela Sixt |
5.8. | Jenseits von Afrika: der afrobrasilianische Candomble Vortrag von Mae de Santo Patrícia Pinheiro (Der Vortrag finden auf Portugiesisch mit englischer Übersetzung statt) |
12.8. | Gespräch mit Pater Schörghofer (tbd) |
Anmeldung unter talks@khm.at
PATENSCHAFTEN
Unsere Ausstellungsobjekte suchen Kunst- und Kulturpat*innen!
Konnte Sie ein Objekt der Ausstellung besonders in seinen Bann ziehen, inspirieren oder berühren? Mit der Übernahme einer Kunst- oder Kulturpatenschaft garantieren Sie, dass unsere umfassenden Bestände durch restauratorische und konservatorische Maßnahmen auch zukünftigen Generationen präsentiert werden können.
350 €
Gott Bes
Ägyptisch, Spätzeit
5.–4. Jh. v. Chr.
150 €
Nero
Carlo Brioschi, Bühnenbildentwurf für die Oper Nero (Anton Rubinstein)
1885
300 €
Harpokrates auf einer Lotosblüte, umgeben von magischen Inschriften
Römisch, Mittlere Kaiserzeit
2. Jh. n. Chr.
650 €
Geweihtes Schwert
Besitzer: Erzherzog Ferdinand II. Sohn Ferdinands I. von Habsburg Österreich, Landesherr von Tirol (1529–1595)
2000 €
Indra
Nepal
14. Jh.
250 €
Ekeko
Bolivien
1972
Als Kunst- oder Kulturpat*in bleiben Sie auf ewig mit Ihrem auserwählten Kunstwerk in Verbindung und können sich immer von Neuem Ihre persönlichen Assoziationen zu den höheren Mächten in Erinnerung rufen.
Sie möchten Kunst- oder Kulturpatin*in werden? Weitere Informationen finden Sie hier. Wir beraten Sie auch gerne persönlich unter kunstpatenschaft@khm.at oder +43 1 52524 4037.
#BeTheHigherPower
Brauchen Sie einen Powerboost? Dann schlüpfen Sie jetzt in die Rolle eines furchtlosen Ritters. Möchten Sie Böses abwehren und jemanden beschützen? Dann verwandeln Sie sich in den Schutzpatron Bes. Oder wollen Sie endlich Ihre heimliche Liebe für sich gewinnen? Der Liebesgöttin Venus kann niemand widerstehen.
Probieren Sie unsere Instagram-Filter aus, teilen Sie Ihre höhere Macht mit dem Hashtag #BeTheHigherPower und vergessen Sie nicht unseren Kanal @kunsthistorischesmuseumvienna zu taggen.
Unsere Spotify-Playlist zur Ausstellung
Entdecken Sie auf unserem Spotify-Kanal eine eigene Playlist zur Ausstellung – Musik über Gottheiten, Natur, Liebe, Hoffnung und viele weitere Assoziationen zum Thema höhere Mächte, von Madonna bis Falco.
Podcast
Claudia Augustat, Gerlinde Gruber und Rudi Risatti führten stellvertretend für ein ganzes Team von Kuratorinnen und Kuratoren aus Kunsthistorischem Museum, Weltmuseum Wien und Theatermuseum durch die Schau und präsentierten erste Eindrücke von den Objekten und Themen der Ausstellung.
Die folgenden 20 Minuten sind eine Aufzeichnung dieses Rundgangs. Wir wünschen gute Unterhaltung!
Technik: Thomas Gregorc, Barbara Schwerführer; Moderation: Rafael Kopper